Hagen. . Richard Wagner hat großartige Opern geschrieben. Als Mensch machte der Komponist es seinen Bewunderern aber nicht leicht. Notorischer Ehebrecher, Antisemit, Intrigant: Kaum ein Komponist kann so viele schäbige Eigenschaften auf sich vereinen wie er. Zum 200. Geburtstag von Richard Wagner eine etwas andere Hommage.

Der ganze Richard Wagner auf 170 Druckzeilen? Das scheint so unmöglich wie die Bitte Lohengrins an Elsa: „Nie sollst du mich befragen.“ Das gewaltige Werk, das abenteuerliche Leben, die missbräuchliche Rezeption sprengen jedes Artikelformat. Wir versuchen daher zum 200. Geburtstag eine etwas andere Hommage. Sie beleuchtet einzelne Aspekte ganz persönlich und unter einem Stichwort, das Richard Wagners Schaffen heute interessanter macht denn je: Entschleunigung.

Ständig auf der Flucht

Steckbrieflich gesuchter Revolutionär, ständig auf der Flucht vor der Polizei oder Gläubigern, notorischer Ehebrecher, Pumpgenie, Antisemit, Intrigant: Kaum ein Komponist kann so viele schäbige Eigenschaften auf sich vereinen wie Richard Wagner. Zwischen Biographie und Werk klafft ein gewaltiger Widerspruch.

„Dies ist ein parfümierter Qualm, in dem es blitzt. Dies ist das Ende der Moral in der Kunst!“ Man sieht ihn regelrecht vor sich, den Lübecker Organisten Edmund Pfühl, wie er über Wagner wettert. Der Schriftsteller Thomas Mann legt ihm in den „Buddenbrooks“ seine Hassliebe zum Komponisten in den Mund. Denn Wagners Opern zielen nicht auf Gottesfurcht oder Herzensbildung. Sie zielen direkt auf den Solarplexus. Dieser Musik muss sich der Hörer hingeben. Sie belohnt ihn dafür mit einem überwältigenden Gefühl des Aufgehobenseins, das Suchtpotenzial hat.

Maschinenmusik

Pierre Boulez war der erste Dirigent, der 1976 in Bayreuth hörbar machte, wie viel moderne Maschinenmusik im „Ring des Nibelungen“, im „Rheingold“, steckt. Wagners getriebenes Leben ist auch aus den Umwälzungen der Zeit zu erklären, in die er geboren wurde. Die alte feudale Ordnung funktioniert nicht mehr, die 1848er-Revolution misslingt, die Natursehnsucht der Romantiker wird von den stinkenden Schloten der Industrialisierung mit ihren entfremdeten Arbeitsbedingungen überwuchert.

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Eine Vaterfigur fehlt dem Frühwaisen nicht nur biographisch, sondern auch sozial. Die meisten seiner Bühnenprotagonisten leiden übrigens an einem Vaterproblem. Wagner löst den Konflikt, in dem er seine Kunst zur Ersatzreligion und sich selbst zu deren Messias ­stilisiert.

Scheiternde Helden

So lässt sich vielleicht der Größenwahn des Meisters erklären und sein niederträchtiges Verhalten gegenüber Förderern und Freunden. Wagner, damals noch ein unbekannter Hungerleider, bettelt zum Beispiel 1840 den berühmten Komponisten Giacomo Meyerbeer in Paris an. Der hilft großzügig mit Geld und Empfehlungen. Zum Dank verunglimpft Wagner ihn später in seiner Hetzschrift „Das Judenthum in der Musik“ ebenso wie sein erwiesenes Vorbild Felix Mendelssohn Bartholdy.

Es sind wohl diese biographischen Herausforderungen, die das Schaffen letztlich instrumentalisierbar gemacht haben. Adolf Hitler wollte ein ganzes Land in den Weltenbrand der Götterdämmerung mitreißen. Doch Hitlers Wagner-Verehrung krankte an einem Denkfehler: Der Komponist selbst hielt sich für den Größten, aber seine Helden sind allesamt versehrt. Sie werden als Erlöser ersehnt oder gezeugt, wie Lohengrin oder Siegfried, und sind doch selbst der Erlösung so bedürftig. Sie scheitern. Und wir lernen, dass man vom Leben nicht aufs Werk schließen darf.

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Chor-Psychologie

„Tannhäuser“, 2008, Aalto-Oper Essen: Regisseur Hans Neuenfels lässt die Pilgerchöre durch das Parkett einmarschieren und zeigt damit die doppelbödige Wirkung von Wagners Chor-Psychologie. Das Publikum wird Teil dieser Chormassen, es wird nachgerade in den physisch spürbaren Klang hineingesaugt – und darin liegt neben der Glückseligkeit eine Bedrohung: der Verlust des „Ichs“ in der Masse, die Gleichschaltung.

„Parsifal“, 2004, Bayreuth: Es ist die Premiere von Christoph Schlingensiefs als Skandal prophezeiter Inszenierung. Doch der Eklat bleibt aus, weil sich ein Wunder ereignet. Der inzwischen greise Pierre Boulez dirigiert, er hat das Stück bereits 1966 auf dem Grünen Hügel einstudiert, er beweist, dass „Parsifal“ eine, für viele sogar die Referenzpartitur der Moderne schlechthin bleibt.

Was darf die Kunst?

In den „Meistersingern“, jener seltsam bockigen Komödie unter all den Tragödien, wird der Kunstbegriff verhandelt. Was kann, darf, ja muss Kunst? Diese Frage wird heutigen Inszenierungen gerne zum Verhängnis. Unbescheidene Regisseure stolpern leicht angesichts der ungeheuren Komplexität der Stoffe, angesichts der Dialektik, mit der die Guten Böses tun und umgekehrt. Fest steht: Solange es Opernhäuser gibt, wird man Wagner spielen, und die Reihen werden voll sein.

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16 Nettostunden Musik

16 Nettostunden Musik. Das bietet nur der „Ring des Nibelungen“. Wann hat etwa die Bundeskanzlerin schon mal die Möglichkeit, 16 Stunden ohne SMS, ohne E-Mails, ohne Anrufe zu verbringen. Das schafft sie allein in Bayreuth. Vom „Tannhäuser“ bis zur „Götterdämmerung“ und vom „Tristan“ bis zum „Parsifal“ sträuben sich Wagners Opern gegen die Häppchen-Kultur. Hier muss man sich die Höhepunkte ersitzen. Wagner hat einen langen Atem und fordert diesen auch von seinem Publikum.

Das führt mitunter zu physischen Krisen. Da hockt man also im Theater, das Herz rast vom Tag, und die Ungeduld des 21. Jahrhunderts vibriert in den Knochen. Und dann geht der Vorhang auf und Wagner komponiert in extrem luxuriösen Zeitbegriffen. „Zum Raum wird hier die Zeit“, wie es im „Parsifal“ heißt. Es dauert, bis sich der Hörer darauf eingestimmt hat. Deshalb fühlen sich manche Besucher anfangs bei Wagner unwohl. Damit wird sein Werk aber zum perfekten Gegengift für den multimedialen Overkill der Gegenwart, zur Erlösung vom Diktat der schnellen Schnitte und vom Fluch der fortwährenden Erreichbarkeit.