Bonn. . Für unsere Serie „Mein Wagner“ erinnert sich der ehemalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher an seine ganz besondere Beziehung zu dem großen Komponisten, die als Annäherung in mehreren Anflügen stattfand.

Richard Wagner habe ich mich in meinem Leben wie ein Flugzeug, das über einer Stadt kreist und eine Landemöglichkeit sucht, in mehreren Anflügen genähert.

Der erste Anflug fand nicht, wie man erwarten würde, in der Musikstunde in der Schule statt, sondern in der Geschichtsstunde. Man muss sich vergegenwärtigen: Meine gesamte Schulzeit fiel in die NS-Zeit. Mein Geschichtslehrer wollte uns aber lieber von den Vorzügen der Demokratie überzeugen. Dafür benutzte er manchen Umweg. Einer davon war der über Richard Wagner. Bei der Erläuterung der ins Geschichtsbild jener Zeit nicht passenden bürgerlichen Revolution im 19. Jahrhundert berichtete er, mit welchen Idealen Richard Wagner in Dresden auf die Barrikaden gestiegen war: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte.

Wagner als Freiheitskämpfer

Um sich abzusichern gegenüber den Machthabern jener Zeit, verwies er nach der lobenden Vorstellung Wagners als kämpferischen Demokraten auf die Tatsache, dass Wagner bekanntlich der Lieblingskomponist des Führers sei.

Richard Wagner (1813-1883)
Richard Wagner (1813-1883) © dpa

Den Antisemitismus Wagners erwähnte er nicht, obwohl das gerade in jene dunkle Zeit gepasst hätte. So kam es, dass für den Knaben Hans-Dietrich Genscher Richard Wagner zuerst als Freiheitskämpfer ins Bewusstsein trat. Das blieb so dominant, dass sein mir später bekannt werdender Antisemitismus nie das Bild prägte. Mein Großvater sagte mir, das passe auch gar nicht zu dem genialen Komponisten Richard Wagner, wahrscheinlich sei Wagner insoweit ein Kind seiner Zeit gewesen.

Später, in Bremen, begegnete ich Wagner in Rundfunkkonzerten und Opernwiedergaben. Die Widersprüchlichkeit seiner politischen Rolle blieb.

Die Rettung von Bayreuth

Unter einem ganz neuen Aspekt hatte ich unmittelbar nach meiner Ernennung zum Bundesminister des Innern im Oktober 1969 mit ihm zu tun. Es ging um die Sicherung des Fortbestandes von Bayreuth. Der zuständige Referatsleiter im Bundesministerium des Innern, von Köckritz, erläuterte mir das Projekt der Gründung einer Stiftung, getragen von der Stadt Bayreuth, dem Freistaat Bayern und der Bundesrepublik Deutschland.

Es traf sich gut, dass alle damals bestimmenden Parteifamilien in der Verantwortung standen. In Bayreuth gab es einen sozialdemokratischen Oberbürgermeister; Bayern wurde von der CSU regiert, die im Bund in der Opposition stand; und der für die Kultur zuständige Innenminister der SPD/FDP-Regierung Hans-Dietrich Genscher war ein Liberaler. Die Stiftung wurde geschaffen, Bayreuth gerettet.

Französischer Außenminister öffnete Augen und Ohren für Wagner

Später, als Außenminister, traf ich auf einen französischen Außenminister, dessen Familie unter der deutschen Besetzung besonders gelitten hatte. Er selbst war in Gestapohaft; sein Vater wurde als Geisel erschossen. Roland Dumas, das ist sein Name, wollte eigentlich Opernsänger werden, wurde dann aber ein erfolgreicher Rechtsanwalt in Paris.

Aber seine Liebe zur Oper blieb. Sie galt in besonderer Weise der Musik Richard Wagners. Er hat mir Augen und Ohren für das künstlerische Werk Richard Wagners endgültig geöffnet. So kann ich mich heute zum Kreis der Bewunderer der Wagner’schen Musik zählen und so gehöre ich längst zu denen, die es in jedem Jahr wieder nach Bayreuth zieht.

In unserer Serie zum 200. Geburtstag des Komponisten Richard Wagner (22. Mai) erzählen in den kommenden Wochen in loser Folge einige prominente Zeitgenossen, wer „ihr“ Wagner ist.

Zu den Gastautoren zählen die legendäre Sängerin Anja Silja sowie und der Dirigent und Chef des Aalto-Theaters Stefan Soltesz.

Hans-Dietrich Genscher zählt zu den großen Politikerpersönlichkeiten der Bundesrepublik. 23 Jahre gehörte er der Regierung an. Als Bundesaußenminister verkündete er den DDR-Flüchtlingen auf dem Gelände der Prager Botschaft 1989 ihre genehmigte Ausreise in den Westen. In der Riege der Prominenten gilt Genscher als einer der treuesten Besucher Bayreuths überhaupt.