Mülheim. . Zwei packende „Stücke“-Beiträge in Mülheim: „X-Freunde“ von Felicia Zeller und „Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind“ von Altmeister Franz Xaver Kroetz, das nach neun Jahren erst zum ersten Mal aufgeführt wurde.

Die deutsche Gegenwartsdramatik ist voll von Stücken, in denen auf der Bühne kaum noch miteinander kommuniziert wird, in denen man stattdessen das Publikum aber frontal angeht. Zwei höchst unterschiedliche Beispiele dafür konnte man jetzt beim Mülheimer Stücke-Wettbewerb erleben, der inzwischen auf hohem Niveau seine Halbzeit erlebt hat.

Felicia Zeller ist bekannt für ihre rasend schnell gesprochenen Texte, in denen sich überlastete Gruppen unserer Gesellschaft in sprachlich exakt choreographierten Stakkato-Opern den Frust von der Seele reden. Ihr neues Stück „X-Freunde“, präsentiert in der Uraufführungs-Inszenierung von Bettina Bruinier am Schauspiel Frankfurt, wirkt da mit seinen drei klar umrissenen Charakteren auf den ersten Blick schon fast wie eine traditionelle Komödie.

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Aber natürlich geht es auch diesmal um gestresste Zeitgenossen, die sich selbst kaum noch etwas zu sagen haben und deshalb einen Wortschwall nach dem anderen auf das Publikum abwälzen.

Da ist Anne (Claude de Demo), die gerade ihre eigene Consulting-Firma gegründet und nun noch weniger Zeit für ihren arbeitslosen Ehemann Holger (Viktor Tremmel) übrig hat. Sie wird zum Sklaven ihres Laptops, mit dem sie derart süchtig verschmilzt, dass man von Ehebruch sprechen könnte. Und dann ist da noch der Bildhauer Peter (Christoph Pütthoff), gerade von einer Kreativitäts-Blockade heimgesucht, von der er durch gelegentlich atemberaubendes Salbadern nur allzu gerne ablenken möchte.

Nervenbündel neben dem toten Ehemann

Am Ende muss das Nervenbündel Anne mit großen Augen zugeben, dass sie 36 Stunden lang nicht gemerkt hat, dass der Gatte an ihrer Seite sich längst mit Schlaftabletten ins Jenseits gerettet hat. Wie immer steht man ehrfürchtig vor Zellers Wortkaskaden und deren kunstvoller Umsetzung durch ein bewundernswertes Schauspieler-Trio. Doch dann, im Vergleich mit dem monströsen Requiem „Du hast gewackelt“ von Franz Xaver Kroetz, gerinnt dies alles doch ein wenig zu Kunst um der Kunst willen.

Kroetz, der Dichter, der eigentlich die Dramatik für sich ganz abgeschlossen hatte, taucht nun plötzlich wieder auf, weil man am Münchner Residenztheater sein bereits 2004 veröffentlichtes Stück endlich zur Uraufführung gebracht hat. Anne Lenks Inszenierung arbeitet deutlich heraus, welch ein Wurf ihm da gelungen ist. Fünf aktive Kinderschänder und zwei Frauen, die dies alles haben geschehen lassen, blicken zurück auf das Schicksal eines Fünfjährigen, den sie schließlich nach wiederholten sexuellen Übergriffen kollektiv getötet haben. Die undichte Kiste mit seiner Leiche hängt drohend über ihren Häuptern.

Schamloser Umgang mit Missbrauchstätern

Kroetz führt sie vor, diese Kreaturen, indem er sie einfach reden lässt. Sie rechtfertigen sich für ihr Tun, wollen dem Kind angeblich nur geholfen haben beim Verabreichen von Zäpfchen, wollen schließlich aus dem Kleinen einen perfiden Stricher formen, können aber bei allem „Guter Onkel“-Getue nicht verhindern, dass am Ende die Wut gegen den Kleinen wieder Raum greift.

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Gewaltsamer als hier ist Sprache selten vorgeführt worden, schamloser als hier ist man Missbrauchstätern noch kaum begegnet. Kroetz hat 1976 mit „Das Nest“ den ersten Dramatikerpreis in Mülheim gewonnen, nun meldet er sich bei seiner mittlerweile sechsten Teilnahme mit Wucht zurück: „Du hast gewackelt“, inspiriert durch einen realen Fall in Saarbrücken, das sind 90 entsetzliche Minuten, bei denen man schamlos lügenden Tätern hilflos ausgeliefert ist.