Bochum. . Arme und Reiche, Christen und Muslime, Migranten und Einheimische: Wie viel Gegensätze hält unsere Gemeinschaft aus? Die Reaktionen auf das anti-islamische Hass-Video zeigen, wie verwundbar das Zusammenleben der Religionen ist. Darüber reden 2000 Soziologen bei einer Tagung in Bochum und Dortmund.

Die Beschneidung kleiner Jungen aus religiösen Gründen hat eine heftige Debatte ausgelöst. Die Emotionen, die sich dabei Luft verschafften, haben längst juristische oder religiöse Aspekte übertönt. Sie wirft aber auch eine grundsätzliche Frage auf: Wie viel religiöse Vielfalt verträgt unser Gemeinwesen, wie sehr strapaziert sie die Toleranz, wie sehr gefährdet sie unseren Zusammenhalt?

Dies ist ein Thema des großen Soziologenkongresses vom 1. bis 5. Oktober an den Universitäten in Bochum und Dortmund, zu dem unter der Überschrift „Vielfalt und Zusammenhalt“ über 2000 Fachleute erwartet werden. Die blutigen Reaktionen auf das Anti-Islam-Video belegen erneut, welche Sprengkraft verletzte religiöse Gefühle entwickeln können.

Kluft zwischen Arm und Reich

Doch nicht nur die Religion verliert zunehmend ihre Funktion als Bindemittel unserer Gesellschaft. An zahllosen Stellen zeigen sich tiefe Brüche, was von vielen Menschen als Bedrohung empfunden wird. Immer größer wird zum Beispiel die Kluft zwischen Reichen und Armen – der aktuelle Armutsbericht bestätigt das. Wie viel soziale Ungleichheit verträgt unsere Gesellschaft, bevor es zu Verwerfungen, ja zu Unruhen kommt?

„Die Gesellschaft reißt an den Rändern auseinander“, sagt Ludger Pries, Soziologe an der Ruhr-Uni Bochum und einer der Organisatoren des Kongresses. „In den vergangenen Jahren hat sich die soziale Ungleichheit deutlich verschärft.“ Die heute junge Generation werde die Folgen zu spüren bekommen: ungleich verteilte Bildungschancen, niedrige Löhne, befristete Jobs und kleine Rente.

Vielfalt – das bezeichnet aber nicht nur die soziale Lage der Menschen. Es geht auch um Bildung, Beschäftigung, Herkunft, Geschlecht, Religion, Kultur und Lebensstil. Um Heteros und Homos, um Singles und Familien, um Vegetarier, Ökos und Fleischesser. Um Christen, Juden, Muslime und Atheisten, um Tätowierte und Gepiercte, um Junge und Alte, Migranten und Einheimische. Wo bleibt da das Gemeinsame?

Die Familie als Auslaufmodell

Ein gutes Beispiel ist die Familie. Galt sie einst als Keimzelle und Fundament einer funktionierenden Gesellschaft, erscheint sie nun als Auslaufmodell. Heute werden mehr Kinder von nicht verheirateten Partnern geboren als von Eltern mit Trauschein. Das Modell Familie scheint nicht mehr zu taugen für die globalisierte Welt mit ihren Anforderungen an Ausbildung, Beruf und Flexibilität. Vielleicht sind auch die einst zur Familie gehörenden Werte nicht mehr überzeugend. Der Zusammenhalt, den Familie einst bot, schwindet.

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Doch zugleich entstehen neue Familienformen, die Soziologie spricht von „post-traditionalen Gemeinschaften“. Wohngemeinschaften, uneheliche Partnerschaften, Homo-Ehen, Seniorengemeinschaften, Zweckverbünde und vieles mehr. Vielfalt ist also nicht stets Bedrohung, sie kann sich wandeln in neue Varianten des Zusammenhalts.

Neue Formen der Gemeinschaft

„Aktionsbündnisse, Bürgerinitiativen – ja, auch soziale Netzwerke im Internet sind neue Formen des Zusammenhalts“, sagt Pries. Protestbewegungen wie Attac oder Occupy, die Wutbürger von Stuttgart oder die Bürgerbewegung vor Ort – sie entwickeln eine Bindungswirkung, die klassische Institutionen verloren haben.

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Risiko oder Chance, darüber diskutieren die Soziologen in Bochum und Dortmund. Warum muss man sich darüber klar werden? Warum sind die Antworten der Soziologen wichtig? Beispiel Euro. Pries sagt: „Die Krisensituation hängt auch von der persönlichen Sichtweise ab. Wenn ich eine Lage als Krise empfinde, dann ist es auch eine. Das weiß jeder Börsenhändler und jeder Politiker.“ Wer anders als Soziologen könnten die Realitätswahrnehmung der Europäer entschlüsseln?

Laboratorium Ruhrgebiet

Beispiel Migration. Will man Hochqualifizierte ins Land locken, gehören dazu mehr als nur ökonomische Argumente, auch das kulturelle und soziale Umfeld sind wichtig. Beispiel Europa. Da geht es um Identitätsforschung. Gibt es eine Chance auf eine europäische Gemeinschaft? Beispiel alternde Gesellschaft, Rente oder Armut – alles soziologische Themen. Oder die Geburtenrate: „Da geht es nicht nur um Fragen wie Kinderbetreuung, Wohnungs- oder Arbeitsmarkt. Es geht um die Angst vor der Zukunft.“

Das Ruhrgebiet als demografisches und soziales Laboratorium der Bundesrepublik ist für die Soziologen der richtige Ort, um nach Antworten zu suchen.