Essen. „Atlas Ruhrgebiet“ zeigt an 14 Beispielen von der Margaretenhöhe bis zur Bochumer Girondelle, welcher Massenwohnungsbau sich bewährt hat.

Wenn es einen Weltuntergang gäbe, wollte der alte Bismarck schnell nach Mecklenburg eilen, weil dort alles 100 Jahre später hinkommt. Den strategischen Vorteil einer gewissen Zeitverzögerung hat auch das Ruhrgebiet genutzt, und zwar im massenhaften Wohnungsbau. Hier hat das Revier, so dokumentiert es der neue „Atlas Ruhrgebiet“, die schlimmsten Sündenfälle vermieden.

Als Wohnort bis heute begehrt: Die Siedlung Margaretenhöhe in Essen.
Als Wohnort bis heute begehrt: Die Siedlung Margaretenhöhe in Essen. © WAZ FotoPool | Tim Schulz

Der „Atlas Ruhrgebiet“ wurde von Lehrenden und Studierenden der Architektur an der TU Dortmund erarbeitet. Er zeigt an 14 Beispielen von der Siedlung Eisenheim in Oberhausen bis zum Baukomplex Girondelle an der Bochumer Ruhruniversität, was sich für eine Gegenwart, die massenhaften Wohnungsbau dringend nötig hätte, in architektonischer Hinsicht lernen lässt vom Revier.

Die englische Gartenstadt als Vorbild für Eisenheim, die „Alte Kolonie“ in Gladbeck und andere Arbeitersiedlungen

Es fing schon bei den „Mietskasernen“ an. Das Ruhrgebiet orientierte sich als ursprünglich ländliche Region mit seinen „Kolonien“ und Siedlungen mehr an einem dörflichen als an einem städtischen Idealbild. Die englische Gartenstadt wurde zum verbreiteten Vorbild und, nach ersten Erfahrungen in Eisenheim oder der „Alten Kolonie“ in Gladbeck in verschiedene Richtungen weiterentwickelt.

Terrassen und geschützte Sitzplätze wie bei Reihenhaus-Eigenheimen, und doch ein Hochhaus: Ein Hügelhaus in Marl.
Terrassen und geschützte Sitzplätze wie bei Reihenhaus-Eigenheimen, und doch ein Hochhaus: Ein Hügelhaus in Marl. © WAZ | Nikos Kimerlis

Und als ab der Gründerzeit mehrstöckige Mietshäuser gebaut wurden, hatten sie weniger Geschosse als etwa in Berlin, wo verschattete, enge Hinterhöfe mit barbarisch unhygienischen Zuständen den Zeichner und Milieubeobachter Heinrich Zille zu der vielzitierten Erkenntnis brachten, dass man mit einer Wohnung einen Menschen ebenso erschlagen kann wie mit einer Axt.

Das ökologisch wertvolle „low rise, high density“ wurde im Revier schon früh praktiziert

„Auch die Großsiedlungen und experimentellen Bauten der 1960er- und 1970er-Jahre blieben meist näher am menschlichen Maßstab als die zeitgleich realisierten megalomanen Projekte in Berlin oder Paris“, schreibt der Architekturhistoriker Moritz Henkel unter der Überschrift „Learning from Ruhrpott“. Alle vorgestellten Projekte zielten darauf, „eine große Menge von qualitativem Wohnraum mit wirtschaftlich sinnvollem Aufwand für die breite Masse der Menschen bereitzustellen.“ Das heute weltweit gültige ökologische Ideal von „Low rise, high density“ („niedrige Höhe, große Verdichtung“) mit maximal viergeschossigem Wohnungsbau ist im Ruhrgebiet vielfältig realisiert worden.

Siedlungen wie Eisenheim, wo ab 1844 mit Kreuzgrundrissen vier Wohneinheiten in einem Baukörper zusammengefasst wurden, schufen früh eine Verdichtung des Wohnens, wie sie heute aus ökologischen Gründen mehr denn je geboten ist. Spätere Siedlungen wie die Margarethenhöhe oder Altenhof 1 in Essen vermieden sogar die Monotonie der „Kolonien“, indem es verschiedene standardisierte Haustypen gab, die mit Schmuck-Elementen weiter individualisiert wurden. Und die rasterförmig rechtwinkligen Wege wichen sanft geschwungenen Straßen.

Dahlhauser Heide und Hüttenheim 1 in Duisburg

Dieses dörfliche Erscheinungsbild bei gleichzeitiger Verdichtung (bis hin zur Dahlhauser Heide in Bochum oder der Siedlung Hüttenheim 1 im Duisburger Süden) sorgt dafür, dass es für solche Wohngebiete bis heute ellenlange Wartelisten gibt. Dagegen müssen die riesigen Hochhäuser, für die man in den frühen 70er-Jahren oft Werkssiedlungen abgerissen hat, nach nur wenigen Jahrzehnten Nutzung heute mit Millionenaufwand gesprengt werden. Bezahlt mit Steuergeldern, weil der Abriss im Interesse der Allgemeinheit ist.

Der „Atlas Ruhrgebiet“ mustert den Wohnungsbau weiterhin an den drei- bis viergeschossigen „Reformblöcken“ der 1920er-Jahre durch, zu denen etwa auch die zwei bis dreigeschossige Cunosiedlung in Hagen mit ihren unterschiedlich gestalteten Häuserzeilen gehört. Das setzt sich fort mit dem „auffällig unauffälligen“ Wohnungsbau der 50er-Jahre (mit vielen versteckten, zu selten bemerkten Qualitäten) sowie an den Wohnexperimenten der 70er-Jahre, wie sie mit viel Idealismus, aber auch mit gelegentlich katastrophaler Bauqualität etwa in der „Neuen Stadt Wulfen“ am Nordrand des Reviers durchexerziert wurden.

Das Projekt „Habiflex“ in Dorsten-Wulfen: Es regnete rein, die Wände waren flexibel, aber nicht dicht

Das Projekt „Habiflex“ etwa sollte flexible Wohnungs-Grundrisse verwirklichen, mit einfach versetzbaren Wänden sowie einem „Gelsenkirchener Balkon“, bei dem mit faltbaren Fenstern an den Gebäude-Ecken je nach Jahreszeit eine offene Loggia oder ein beheizbarer Wintergarten entstand. Die anfängliche Begeisterung der Bewohner wich allmählich einem Entsetzen über „bauphysikalische Mängel“ – es regnete herein und auch die Wände waren nicht immer dicht.

Atlas Ruhrgebiet

Der Atlas Ruhrgebiet ging aus einem Forschungsprojekt mit Lehrenden und Studierenden am Lehrstuhl Städtebau der Architektur-Fakultät an der TU Dortmund hervor. Für Baufachleute bietet der „Atlas Ruhrgebiet“ eine sorgfältige Aufschlüsselung von Kennzahlen (bis zum Fensteranteil und der Flächeneffizienz) und Grundrissen.

Atlas Ruhrgebiet. Von der Arbeitersiedlung bis zum experimentellen Wohnungsbau. Hg. von Moritz Henkel, Anna Jessen und Ingmar Vollenweider. Kettler Verlag, 264 S., 48 €.

Eine andere Errungenschaft dieser versuchsfreudigen Zeit aber ist immer noch viel zu wenig beachtet: die Hügelhäuser von Marl. Die ab 1968 terrassenförmig angelegten viergeschossigen, kostengünstigen Bauten waren die ersten dieser Art in ganz Europa. Sie kombinieren Eigenheim-Wohnlichkeit und flächensparende Bauweise, sie fügen sich als geschickt kaschierte Hochhäuser geschmeidig in die Landschaft und sind bis heute auf dem Wohnungsmarkt extrem begehrt. Am Fall der Mitte bis Ende der 1960er-Jahre errichteten Bochumer Girondelle mit 211 Wohnungen in bis zu acht Geschossen schließlich lässt sich studieren, wie wichtig gerade bei modernem Groß-Wohnungsbau mit Stahlbeton-Elementen die Pflege des Gebäudes ist. Das terrassenförmig mit differenziert gestaffelter Fassade errichtete Gebäude wäre heute, was Flächenverbrauch und Energiebilanz in Errichtung und Betrieb angeht, ein gutes Vorbild.

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