Riwne/Essen. Veronika Maruhn nahm als einzige westliche Schauspielerin an einem Weihnachts-Theaterfestival in der ukrainischen Stadt Riwne teil.
Braucht ein Land im Kriegszustand wirklich Theater? Vorstellungen mit Bühnen-Action, Scheinwerfern, Musik und allem Zipp und Zapp? Wenn der Strom so knapp ist? Dafür dann die Aggregate laufen zu lassen? Die Menschen in der Ukraine jedenfalls lechzen förmlich nach neuen Stücken und Inszenierungen, nach Vorhang und Schauspiel, nach guten Gründen für Begeisterung und Beifall: „In Riwne“, sagt die Essener Schauspielerin Veronika Maruhn, „ist das Theater jeden Abend voll!“ Sie hat es am eigenen Leib erfahren – sie hat Anfang Dezember als einzige Schauspielerin aus dem Westen beim „Scrooge“-Festival in Riwne zwischen Lemberg und Kiew mit einem Ein-Personen-Stück teilgenommen. Es war ihr Beitrag zu dem Festival, das viele verschiedene Inszenierungen von Charles Dickens‘ „Weihnachtsgeschichte“ bieten sollte.
- Johan Simons (78): „Ein Rentnerleben kommt nicht infrage“
- „Istanbul“ in Essen: Jubel für deutsch-türkischen Liederabend
- Carolin Kebekus: „Als Frau bist du Gläubige zweiter Klasse“
- Lars Eidinger: Anzug eine Nummer zu groß, Bert Brecht nicht
Eigentlich waren auch polnische und britische Gastspiele vorgesehen. Aber eine Woche vor Beginn des Festivals gingen russische Raketen auf Riwne nieder, vor allem auf das Umspannwerk des nahegelegenen Atommeilers. Da beließen es die Briten dabei, ein Video zu schicken – und auch die übrigen Theatertruppen aus dem Westen sagten ab. Veronika Maruhn aber, die im ganzen Ruhrgebiet mit ihrem Figurentheater „Zebula“ für Kinder und dem Erwachsenentheater „Affetto“ bekannt geworden ist, legte die 1600 Kilometer bis Riwne im Nordwesten der Ukraine mit ihrem Theaterbus zurück, mit ihrem Bühnentechniker Ralf Rösener und einem Essener Hilfskonvoi. Und erlebte bei ihrer Vorstellung ein Lichterfest in den Augen des Publikums, das im ungeheizten Theater mit dicken Mänteln und Jacken saß – und am Ende aufsprang, um „Bravo, Bravo“ regelrecht zu schreien, um minutenlang zu applaudieren. Überbordende Dankbarkeit, Freude am Theater, helle Begeisterung: „Das“, sagt Veronika Maruhn, „hat mich sehr, sehr glücklich gemacht!“ Sie habe „die unglaubliche Kraft der Kultur“ gespürt.
Veronika Maruhn hatte in der Vorbereitung daheim wochenlang an ihrer Bühnen-Umsetzung der „Weihnachtsgeschichte“ auf Deutsch gearbeitet. Darin finden die Geister-Erscheinungen des grantelnden Geizhalses Ebenezer Scrooge nur in seiner Einbildung statt, als Stimmen vom Band. Mit ihnen und einer Puppe als Neffe Fred unterhält sich Veronika Maruhn in ihrer Adaption; eingesprochen haben sie ihre Kollegen Christoph Kreuzer, Christian Maruhn, Michael Ophelders und Jörg Maria Welke. Der Fotograf Thomas Willemsen und der Grafikdesigner Andreas Köhne haben dafür gesorgt, dass aus Malereien der Schauspielerin surreale Bilder auf die Bühnen-Rückwand projiziert werden konnten.
Veronika Maruhn in Riwne: „Bin ich besser informiert – oder bloß bekloppt?“
Am Abend zuvor hatte das städtische Schauspiel-Ensemble seine Umsetzung von Dickens‘ „Weihnachtsgeschichte“ gezeigt, mit allem, was Theater aufzubieten hat: „Gut 30 Leute auf der Bühne, im dekorativen Bild, mit prächtigen Kostümen und Pomp in den Requisiten. „Das Theater in Riwne ist etwa so groß wie das Grillo-Theater in Essen und auch so alt“, weiß Veronika Maruhn, „so ein richtiger schöner Bau mir Balkonen, ein bisschen in die Jahre gekommen, aber mit sehr viel Atmosphäre.“ Und das, obwohl bei rund 500 Plätzen nur 300 Menschen hineindürfen, „weil nur so viele in den Bunker des Theaters passen.“ Aber es wird jeden Abend gespielt im Theater, und es ist immer ausverkauft.
Ist sie dann doch nach Riwne gefahren, weil sonst die viele Arbeit vergebens gewesen wäre? „Ach nein“, sagt Veronika Maruhn, „ich kann die ,Weihnachtsgeschichte‘ ja auch hier bei uns aufführen.“ Sie habe versucht, das Risiko einzuschätzen, „und dann habe mir am Ende einen Ruck gegeben.“ Aber unheimlich sei ihr die „nicht ganz angstfreie“ Theaterreise ins Kriegsgebiet doch immer wieder mal gewesen: „Da habe ich mich gefragt, bin ich durch die Erfahrungen der Hilfskonvoi-Fahrer besser informiert als alle, die abgesagt haben – oder bloß bekloppt?“
„Cool!“ – die jungen, aufstrebenden Frauen von Riwne bestürmten Veronika Maruhn nach der Vorstellung
Die Reaktionen in Riwne sollten alle Zweifel hinwegfegen. Besonders die jungen Frauen im ohnehin vergleichsweise jungen Publikum hingen nach der Vorstellung geradezu an ihren Lippen, wie es mehrere Zeugen schildern. Die Ukraine ist noch eine sehr patriarchalisch ausgerichtete Gesellschaft, Frauen, so die verbreitete Einstellung, sind für Kinder und Küche da und sollen vor allem schön sein. Aber es gibt auch die jungen, gut ausgebildeten Frauen, die in der Verwaltung arbeiten, in der Wirtschaft. Für sie war diese Frau aus Essen, die ein ganzes Theaterstück von gut einer Stunde in eigener Regie in allen Rollen stemmt, die mutig entschieden hat, in die Ukraine zu fahren, ein Role-Model im wahrsten Wortsinne. „Cool! Sie haben immer wieder ,Cool!‘ gesagt.“
Veronika Maruhn träumt nun von einer Inszenierung, die man in Riwne und im Revier zeigt, von gemeinsamer Kulturarbeit mit der ukrainischen Stadt, mit der Essen eine Solidaritätspartnerschaft, etwa in Hilfstransporten unterhält. „Auch nach dem Krieg wäre das wichtig“, sagt die Vollblut-Theaterfrau, „man könnte das ja mit einem Jugendaustausch kombinieren. Jugendcamps haben wir ja auch schon mit israelischen, englischen und finnischen Jugendlichen.“
Trauerfeier für Gefallene auf dem Maidan: „Alle gehen zum Sarg, berühren ihn, knien noch einmal“
Von den 250.000 Einwohnern Riwnes, das von April bis Mai 1919 mal kurz Hauptstadt der Ukrainischen Volksrepublik war, haben bereits 500 Männer im Krieg gegen Russland ihr Leben verloren. Auf dem Maidan in der Stadt hat Veronika Maruhn die Gedenkbilder gesehen, hunderte. Und eine Soldaten-Verabschiedung mit Chor und Geistlichen, „und als die Särge kamen, haben alle gekniet. Eine Witwe, 29 und schwanger, ist ohnmächtig geworden. Alle gehen zum Sarg, berühren ihn, knien noch einmal. Aber man spürt bei aller erschütternden Trauer ihren unbedingten Willen zur Freiheit.“ Als sie einen verwundeten Soldaten besuchte, habe der gesagt: „Wenn ich wieder gehen kann, gehe ich wieder an die Front.“