Essen. Migration mal anders: Liederabend „Istanbul“ erzählt von deutschen Gastarbeitern in der Türkei. Im Schauspiel Essen klatscht das Publikum begeistert mit.

„Wir sind die anderen“: Wie oft hat man den Satz schon gedacht und gehört. Und plötzlich steht die Erkenntnis einfach so erhellend klar und nachvollziehbar im Raum. „Istanbul“ heißt dieser beschwingte Rollenwechsel, der aus dem Ruhri Klaus einen Gastarbeiter in der Türkei macht. Entwickelt wurde der Liederabend mit Songs der Grande Dame des türkischen Pop, Sezen Aksu, von der amtierenden Essener Schauspiel-Intendantin Selen Kara zusammen mit Torsten Kindermann und Akın Emanuel Şipal.

2015 in Bremen uraufgeführt, macht das Stück seither Karriere an den deutschen Theatern von Stuttgart bis Osnabrück. Zum Entzücken des Publikums erlebt „Istanbul“ im Essener Grillo-Theater nun eine Neuauflage. Die Premiere endete am Freitagabend (20. Dezember) in einem vorweihnachtlichen Jubelrausch.

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Ein Sonderapplaus ging an diesem Abend natürlich an Roland Riebeling. Der in Essen geborene Schauspieler, den man seit vielen Jahren aus dem Kölner „Tatort“ kennt, hat diesen deutschen Arbeitsmigranten Klaus Gruber schon 2017 am Schauspielhaus Bochum gespielt und „Istanbul“ mittlerweile auch selber inszeniert. Als Ersatz des erkrankten Stefan Diekmann sorgte er bei der Essener Premiere für Begeisterung.

Kleines Zimmer mit viel Ausblick: Roland Riebeling ist bei der Essener „Istanbul“-Premiere als deutscher Gastarbeiter Klaus für den erkrankten Stefan Diekmann eingesprungen.
Kleines Zimmer mit viel Ausblick: Roland Riebeling ist bei der Essener „Istanbul“-Premiere als deutscher Gastarbeiter Klaus für den erkrankten Stefan Diekmann eingesprungen. © Fatih Kurceren | Fatih Kurceren

Riebelings Klaus ist der Malocher, der Anfang der 1960er in die wirtschaftlich aufstrebende Türkei geht, um der kleinen Familie im ärmlichen Katernberg ein besseres Leben zu ermöglichen. Seinen Reiseanzug (Kostüme: Emir Medic) legt er die nächsten zwei Stunden nicht ab, so als könnte es doch jederzeit wieder nach Hause gehen. Doch als Klaus 40 Jahre später nach all der Schinderei am Fließband in der Ferne stirbt, wissen sie nicht mehr, wo sie seine Urne verbuddeln sollen: In Istanbul? In Essen? Oder die Asche teilen?

Geschichte erzählt von Einsamkeit und Sprachlosigkeit in der Ferne

„Istanbul“ ist eine einfache, kleine Geschichte, die mit viel Musik, Humor, ohne Schnörkel und bekennend unterhaltsam aufs mitfühlende Herz zielt. Sie erzählt von der Einsamkeit und Sprachlosigkeit in der Ferne, der Sehnsucht nach Vertrautheit und Bohnenkaffee, der Entfremdung von Familie und Heimat, aber auch vom Prozess der Annäherung in der Fremde, der zur Not auch mit einer Runde Raki gelingt. Und immer mittendrin: Die hervorragend aufgelegte und hochbewegliche deutsch-türkische Band mit Ceren Bozkurt, Koray Berat Sari, Jan-Sebastian Weichsel und Thorsten Kindermann als musikalischer Kopf der Produktion

„Istanbul“ berichtet von all dem, was sonst recht nüchtern und abstrakt unter Begriffen wie Migration und Integration debattiert wird. Nur verhandelt der Liederabend all das unter verkehrten Vorzeichen. Das Land des Wirtschaftswunders in den 1950ern und 60ern ist hier nicht Deutschland, sondern die Türkei. Dort werden die Arbeiter angeworben, um die Industrie nach vorne zu bringen. Ein einfacher Kniff, ein ungewohnter Perspektivwechsel, der doch manches bewirkt.

„Istanbul“ in Essen: Es wird auf Deutsch gespielt und auf Türkisch gesungen

Während das Hirn schon ganz von selber dieses hochmusikalische, farbenfrohe Spektakel auf der Bühne mit den Konflikten und Debatten von heute abgleicht, sorgen die von leiser Melancholie und Poesie geformten, aber auch mitklatschtauglichen Lieder von Sezen Aksu für die emotionale Wirksamkeit des musikalisch-theatralen Abends. Dabei wird auf Deutsch gespielt und auf Türkisch gesungen (mit Übertiteln). Und das ganz vorzüglich.

Man rückt zusammen und die Musiker sind mittendrin: Szene aus „Istanbul“ am Schauspiel Essen.
Man rückt zusammen und die Musiker sind mittendrin: Szene aus „Istanbul“ am Schauspiel Essen. © Fatih Kurceren | Fatih Kurceren

Alican Yücesoys Fremdenführer Ismet ist ebenso präsent und gut bei Stimme wie die deutschen Schauspielerinnen und Schauspieler, die in der für sie fremden Sprache immer den richtigen Ton treffen. Silvia Weiskopfs Luise schwankt hingebungsvoll zwischen leisem Verzagen und leidenschaftlichem Verlangen, wenn sie an ihren Klaus in der Ferne schreibt. Lene Dax als Tochter Jasmin übernimmt mit glockenhellem Sopran und viel Temperament die Stimme der zweiten Generation, die längst angekommen ist in der neuen Heimat und nicht mehr zurück will ins rot-weiß gestrichene Haus in Katernberg (Klaus ist natürlich Rot-Weiss-Fan!).

Und Roland Riebelings Timbre ist so wunderbar warm und weich wie Klaus‘ Hände, denen die charmant-zupackende Ela von Sümeyra Yilmar doch gerne mehr als einen Cay reichen würde.

Bilder von der Blauen Moschee und vom Bosporus

Zwischen den Bildern von Blauer Moschee und Bosporus (Bühne: Thomas Rupert) rücken so alle zusammen: die Deutschen und die Türken, wie auch das erfreulich gemischte Publikum, das an langen Bänken und Tischen auf der Bühne Platz findet und teilweise auch im Parkett.

Das Trennende, es ist für einen Moment aufgehoben. In einer Zeit, in der Fremdenfeindlichkeit und das Schüren von Ressentiments wieder erschreckend alltäglich geworden sind, ist das nicht wenig.

Karten und Termine unter Tel. 0201-8122-200 und online www.theater-essen.de

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