Essen. Alte und neue Gesichter, Frauen, Männer, Hypersensible und ein Nichtbinärer – das Jahr war so divers wie nie. Und die Swifties rätseln.

Was macht sie denn jetzt bloß mit dieser ganzen Tagesfreizeit? Taylor Swift hat Feierabend, am 8. Dezember trat sie im „BC Place Stadium“ in Vancouver ein letztes Mal zum Dienst im Rahmen ihrer „The Eras“-Welttournee an, es war die 149. Show in eindreiviertel Jahren, und wie immer bot sie ihren Swifties dreieinhalb Stunden Gesang, Showeinlagen und das gute Gefühl, Teil einer großen, liebenswürdigen Gemeinschaft zu sein. Ihre Rekordtournee hat fast 2,1 Milliarden US-Dollar Umsatz erzielt, mehr als zehn Millionen Menschen waren live in den Stadien dabei, und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durften sich jüngst über Boni in Höhe von 187 Millionen Euro freuen. Die am meisten gestreamte Künstlerin weltweit war sie natürlich ebenfalls, auch in Deutschland.

Jetzt ist sie weg. Doch alle fragen sich: Und nun? Heiratet sie ihren Partner Travis Kelce? Gründet sie eine Familie? Inszeniert sie einen Spielfilm, nachdem sie doch 2022 bereits ein Drehbuch an eine bekannte Produktionsfirma verkauft hat und als Regisseurin zahlreiche eigene Videos sowie den „All Too Well: The Short Film“ verantwortete? Nimmt sie – nach fünf Alben in fünf Jahren, darunter das im April veröffentlichte Mammutwerk „The Tortured Poets Department“ – eine weitere Platte auf? Oder, was man sich irgendwie am wenigsten vorstellen kann, gönnt sich der weltgrößte, vermeintlich nimmermüde Superstar nach fast zwanzig Jahren an der Spitze, als anderthalbfache Milliardärin und mit 35 Jahren, einfach mal eine Auszeit, ein Swift-Sabbatical?

Gracie Abrams ist Kronprinzessin von Taylor Swift – eine von vielen

Gracie Abrams, die in Vancouver das Vorprogramm bestritt, weiß immerhin, was direkt nach der Show passierte: „Wir lagen uns alle in den Armen und weinten. Es war wie der letzte Schultag.“ Abrams, 25, etablierte sich in diesem Jahr als eine von Taylors Kronprinzessinnen. Mit ihrem zweiten Album „The Secret Of Us“ und speziell der jüngsten Single „That’s So True“ ist die Tochter von Hollywoodregisseur J.J. Abrams („Star Wars“) jetzt selbst eine der Großen, die Arenatour im Februar war blitzschnell ausverkauft.

Auch für weitere Swift-Schützlinge war es ein tolles Jahr: Sabrina Carpenter, 25, eine gelernte Disney-Kinderschauspielerin wurde lange nicht richtig ernst genommen, landete dann aber drei der sommerlichsten, wonneprallsten und originellsten Hits des Jahres: „Espresso“, „Please Please Please“ und „Taste“, alle aus dem ultrakurzweiligen Album „Short n‘ Sweet“. Die Engländerin Charli xcx (32) machte nicht nur mit dem frechen, knackigen Gören-Pop ihres Albums „brat“ von sich reden, sondern auch als vehemente Unterstützerin der demokratischen US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris.

Chapell Roan geht mit Billie Eilish ins Rennen um den Grammy für den besten Song

Ganz frisch tauchte derweil Chappell Roan (27), queer und aus Missouri, auf der Bildfläche auf, und haute auf ihrem Debütalbum „The Rise And Fall Of A Midwest Princess“ einen lässigen, nicht zuletzt an den Pop der Achtziger erinnernden, melodischen Knaller nach dem nächsten raus, am stärksten aber ist die später veröffentlichte Single „Good Luck, Babe!“, mit der Roan als Favoritin in die Grammy-Verleihung geht. Ihre stärkste Konkurrentin in der Kategorie „Bester Song“ dürfte dort die immer noch erst 23 Jahre alte Billie Eilish sein, die sich (ganz ohne Swift-Rückenwind) mit ihrem dritten Album „Hit Me Hard And Soft“ als wohl herausragendste Songschreiberin ihrer Generation etabliert hat, Billies superfluffigen Hit „Birds Of A Feather“ bekommt jedenfalls niemand mehr aus dem Kopf, der ihn auch nur mit einem halben Ohr gehört hat.

Und auch aus Frankreich schwappte eine phantastische neue Künstlerin zu uns rüber. Zaho de Sagazan kommt aus der Bretagne, wird am 28. Dezember 25, und verzauberte mit ihrem Mix aus Chanson und Elektropop erst „Barbie“-Regisseurin Greta Gerwig in Cannes, dann die Zuschauenden der Pariser Olympia-Abschlussfeier und zunehmend auch alle anderen. „La Symphonie des Éclairs“ heißt das Album der kessen Hypersensiblen, das es mittlerweile auch in einer erweiterten Version gibt. Deutschlands erfolgreichste Popmusikerin heißt Elif Akar, ist 27, kommt aus Recklinghausen und nennt sich Ayliva. Einer ihrer diversen Nummer-eins-Songs, das Duett „Wunder“ mit Apache 207, der ebenfalls ein pralles Jahr hatte, ist der hierzulande am zweitmeisten gestreamte des Jahres, hinter „I Like The Way You Kiss Me“ vom zypriotisch-britischen Songschreiber und Produzenten Artemas.

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Ach ja, Männer, doch, sie gab es diesmal auch. Gerade aus Deutschland kommen ein paar unverbrauchte und hart fühlende Gen-Z-Boys: berq alias Felix Dautzenberg aus Hamburg mit Liedern wie „Mein Hass tritt dir die Tür ein“, Ennio, Nachname Frankl, aus München mit „Fühlst du gar nichts?“, einer Kollaboration mit der auch dieses Jahr wieder überzeugenden Cool-Queen Nina Chuba, und Zartmann (echter Name und Alter unbekannt) aus Berlin. Dem internationalen Pendant Benson Boone, einem 22-jährigen Schnurrbart-wieder-salonfähig-Machenden aus dem US-amerikanischen Nordwesten, gelang mit dem TikTok-Schnipsel-freundlichen „Beautiful Things“ der dramatischste Hit des Jahres, während auch der irische Folk-Mann Hozier mit „Too Sweet“ wiedererstarkte und US-Sänger Noah Kahan mit seinem Album „Stick Season“ das komplette Jahr über in den Charts klebte.

Ohnehin ist Country weiter angesagt. Beyoncé brachte dem längst nicht mehr angestaubten Genre mit „Cowboy Carter“ und insbesondere der prägnanten Single „Texas Hold ‘Em“ eine mächtig frische Brise. Der Partycountrysänger Shaboozey musste erst nach vier Monaten an der Spitze der US-Single-Charts der allweihnachtlichen Mariah Carey Platz machen, und die feist-fröhliche Dasha triumphierte mit ihrem Hit „Austin“.

Auch ganz groß in diesem Jahr: Comebacks. Die Gallagher-Brüder haben sich nach fünfzehn verkrachten Jahren auf ihre Art wieder lieb und setzten dreißig Jahre nach ihrem Monsterdebütalbum „Definitely Maybe“ auf ihrer Stadiontour im nächsten Jahr definitiv ein paar hundert Millionen britische Pfund um. Kurioserweise lassen sie vorerst Kontinentaleuropa komplett aus dem Plan, bei uns wird man Noel und Liam wohl erst 2026 erleben können – sofern sie sich bis dahin nicht wieder hassen.

Linkin Park Perform In Hamburg
Linkin Park-Sängerin Emily Armstrong im September bei einem Konzert in der Arena Hamburg. © Redferns | Joern Pollex

Auch wieder da und auch schon überall ausverkauft: Linkin Park. Sieben Jahre nach dem Suizid von Sänger Chester Bennington ist die Emo-Rock-Rap-Truppe aus Los Angeles nicht nur wieder unterwegs, sondern hat im Gegensatz zu den Gallaghers auch ein neues Album dabei, das starke „From Zero“, allein die Single „The Emptiness Machine“ hielt sich mit wohldosierter Wut-Gefälligkeit ein Vierteljahr ganz oben in den deutschen Charts. Und auch die anfangs umstrittene neue Sängerin Emily Armstrong hat sich inzwischen bestens in der Band eingelebt.

Weitere Altstars, die 2024 zu ihrem Jahr machten, waren David Gilmour, Nick Cave und The Cure. Zum vehement vorstürmenden Nachwuchs zählen allen voran der nicht binäre ESC-Sensationssiegende Nemo (25, „The Code“) aus der Schweiz, die irischen Rock-Punk-Jungs Fontaines D.C. sowie das unübertroffen erfrischende Alles-Frauen-Rockquintett „The Last Dinner Party“ mit ihrem immer noch brutzelfrisch klingenden Album „Prelude To Ecstasy“ inklusive des grandiosen Songs „Nothing Matters“.

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Nur einen haben sie alle nicht verhindern können. Taylor Swift, Billie Eilish, Bruce Springsteen und wie sie alle heißen konnten sich noch so inbrünstig gegen ihn ins Zeug legen, das amerikanische Wahlvolk stimmte für eine zweite Amtszeit ihres nicht unumstrittenen Altpräsidenten. Zierte also Ende 2023 noch Taylor Swift das Cover des „Time“-Magazins als „Person Of The Year“, prangt dort an gleicher Stelle nun das Gesicht von Donald Trump. Ob Taylor Swift vielleicht nicht doch ganz, ganz heimlich an einer politischen Karriere bastelt? Den Ehrgeiz, die Anhängerschaft und die Kohle brächte sie zweifelsohne mit.