Oberhausen. Nick Cave feiert den „Wild God“ seines neuen Albums in der Rudolf Weber-Arena in Oberhausen mit rauschhaften Gospel-Explosionen.
Am Ende spürt man ihn deutlich, diesen „wilden Gott“, von dem Nick Cave erzählt. „Es reicht, wenn ihr leise mitsingt, mehr braucht es nicht“, hat der gebürtige Australier dem Publikum vor seinem vielleicht größten Liebeslied „Into My Arms“ noch mitgegeben. Und wie sich die Klavierballade nun wie ein warmes Summen in der Halle ausbreitet, wie tausende Zuschauerinnen und Zuschauer hier im größtmöglichen Rahmen plötzlich größtmögliche Intimität erfahren, wie sie einen Moment unverfälschten Glücks miteinander teilen – das lässt auch Zweifler kurz den Blick gen Himmel richten.
„Wild God“ hat Nick Cave sein neues, achtzehntes Studioalbum mit seiner Backing-Band The Bad Seeds getauft; es ist die Geschichte einer Auferstehung: Nach dem Tod seines Teenager-Sohnes Arthur im Jahr 2015 rang Nick Cave mit der Welt, viele Jahre und mehrere Alben verschlang die Trauerarbeit. „Wild God“ ist nun nicht nur das Zeugnis wiedergefundenen Lebensglücks, sondern auch das einer spirituellen Erweckung: Der ewige Gottessucher Nick Cave bezeichnet sich mittlerweile als „erloschenen Atheisten“, findet die ungezügelte Göttlichkeit nun in allem irdischen Sein.
Nick Cave & The Bad Seeds in der Rudolf Weber-Arena in Oberhausen: pechschwarze Haare, eleganter Anzug
Das prägt auch den Auftakt seiner „Wild God“-Europatour in der gut gefüllten Rudolf Weber-Arena in Oberhausen. Schon mit dem programmatischen Opener „Joy“, in dem der Geist von Caves verstorbenem Sohnes den Vater von der Trauer freispricht, gibt der 67-jährige Musiker die Richtung vor. Auch der Rest des Konzerts wirkt befreit, berückt, vom Geist erfasst: Die drei Gospelsängerinnen und ihr männlicher Kollege thronten schon 2022 im Hintergrund von Caves Bühne; mit den neuen, oft von spiritueller Wärme durchdrungenen Songs rücken sie nun stärker ins Zentrum der Show – wenn etwa der Titelsong des neuen Albums wie im Rausch bis unter das Hallendach anschwillt, haben sie daran genauso großen Anteil wie die gewohnt großartigen, sechsköpfigen Bad Seeds (die am Bass von Radiohead-Mitglied Colin Greenwood verstärkt werden, der für den erkrankten Martyn Casey einspringt).
Nick Cave & The Bad Seeds am 24.09.2024 in Oberhausen
Nick Cave selbst erscheint auf den ersten Blick kaum verändert: Im eleganten Anzug und mit pechschwarz gefärbten Haaren schreitet er den Bühnenrand ab, drückt beschwörend die Hände der Fans und singt Auserwählten direkt vor den Kopf, pendelt immer wieder kurz für ein paar Piano-Akzente an den Flügel und kehrt stets doch schnell wieder zurück, um ganz nah bei seinem Publikum zu sein. Aber etwas ist anders: 2017 suchte er in den ersten Reihen erkennbar Halt, auch auf der Tour 2022 wirkte er allen dominanten Publikumsdompteur-Gesten zum Trotz noch im Transit. Heute jedoch greift er Arme und Schultern wieder mit der Selbstsicherheit von einem, der bei sich ist, der geben kann anstatt nehmen zu müssen.
Auch die dramatischen Cave-Klassiker klingen einen Hauch wärmer, zuversichtlicher
Auch interessant
Weil neun der zehn neuen Songs am heutigen Abend ihre Live-Premiere feiern, bekommt ein erheblicher Teil des zweieinhalbstündigen Auftritts automatisch eine sakrale Note. Was keinesfalls bedeutet, dass bei Nick Cave plötzlich weichgezeichnet wird: Im angsterfüllten Klassiker „Tupelo“ knallen die Schlagzeug-Schläge immer noch wie Peitschenhiebe, und bei „Red Right Hand“ biegt sich der Künstler manisch brüllend gen Boden, bevor er das Mikrofon von sich schleudert. Doch selbst die Todgeweihten-Erzählung „The Mercy Seat“ klingt nicht mehr ganz so apokalyptisch und existenziell, auch durch den orgiastischen Lärm-Abgrund „From Her To Eternity“ weht leise der Gospel, sogar das am Schluss überraschend brachial im Rock-Exzess explodierende „Jubilee Street“ macht eher einen erhebenden als einen bedrohlichen Eindruck. Es ist im Vergleich zu früher einfach alles ein bisschen mehr Hochamt als Exorzismus. Oder mit einem Nick-Cave-Song gesprochen: Gott ist im Haus, kein Grund zur Sorge.
Wem das alles zu wenig traditionell ausfällt, der darf sich heute immerhin über das jahrelang nicht mehr live gespielte „Straight To You“ freuen, über eine grandios rockig aufgepumpte Version des Vaterschafts-Horrors „Papa Won’t Leave You, Henry“ und über „Palaces Of Montezuma“ von Caves geradlinigem Grinderman-Projekt. Ernsthaft enttäuscht ist hier aber wohl niemand, dass das Publikum über weite Strecken schweigt, liegt wohl eher daran, wie gefesselt es von Caves leidenschaftlichem, manchmal fast predigerhaftem Auftritt ist – die minutenlangen Standing Ovations vor der Zugabe sprechen Bände.
Nick Cave und seine Fans: In Liebe verbunden
Kurz zuvor hat sich eine Frau in der Menge doch ein Herz gefasst: „Du bist wunderbar!“, ruft sie dem Musiker auf Englisch entgegen, „Ach, hört auf, ihr seid wunderbar!“, retourniert der halb scherzend. „Wir lieben dich“, schallt es aus einer anderen Ecke, und da leistet sich dann auch Nick Cave einen kurzen Moment der Ergriffenheit. Das klingt etwas kitschig, fühlt sich aber einfach gut an. Wie dieser mitreißende, erhebende Abend überhaupt.