Gelsenkirchen. „Innocence“, die letzte Oper von Kaija Saariaho, feierte in Gelsenkirchen die Deutsche Erstaufführung. Es geht um Folgen eines Amoklaufs.

Die Vergangenheit will einfach nicht vergehen. Sie hat sich im Erdgeschoss festgesetzt, in einem Klassenzimmer, in dem ein Schüler zehn Jahre zuvor neun Mitschüler und einen Lehrer erschoss. Unterdessen wird im ersten Stock Hochzeit gefeiert. Stela, die Braut, ahnt freilich nicht, dass sie den Bruder des Amokläufers heiratet, der fast zeitgleich in die Freiheit entlassen wurde.

So dramatisch sind die Ereignisse in „Innocence“ verkettet, der fünften und letzten Oper der 2023 verstorbenen Finnin Kaija Saariaho. Nach der Uraufführung in Frankreich sicherte sich das Musiktheater Gelsenkirchen die Deutsche Erstaufführung und legt sie zur Spielzeit-Eröffnung in die Hände der Regisseurin Elisabeth Stöppler, die hier mit „Peter Grimes“ ihren Durchbruch hatte und 2019 den „Faust“-Theaterpreis erhielt.

„Innocence“ im Musiktheater im Revier. Die Deutsche Erstaufführung wurde am Wochenende in Gelsenkirchen gefeiert.
„Innocence“ im Musiktheater im Revier. Die Deutsche Erstaufführung wurde am Wochenende in Gelsenkirchen gefeiert. © MiR / Karl Forster | karl forster

Sie und Dirigent Valtteri Rauhalammi hatten die Partitur im Vorfeld der Premiere wiederholt als „Empathiemusik“ bezeichnet. Die Neue Philharmonie Westfalen fächert sie unter der Leitung des Finnen so zart wie fesselnd auf: mit nachtschwarzen Tiefen und luftiger Sinnlichkeit, dazu mit psychologischer Feinzeichnung. Vieles klingt suggestiv und (alb)traumgleich, zuweilen lähmend wie das Trauma, das auf den Seelen lastet.

„Innocence“ im Musiktheater im Revier: Opfer-Täter-Grenzen verschwimmen

Auch Stöppler glänzt mit kluger Einfühlungsgabe. Im zweistöckigen Gerüst, das im Laufe von rund 100 Minuten allmählich rückwärts gezogen wird, isoliert sie Menschen immer wieder in Zellen (Bühne: Ines Nadler). Ein jeder ist hier mit dem Schmerz, mit den Belastungsstörungen allein.

Die Szenen im Klassenzimmer gerinnen in Zeitlupe, die Gespenster der Vergangenheit drängen aus dem Erdgeschoss nach oben. Die Beleuchtung (Patrick Fuchs) und das Chorwerk Ruhr, das die Tragödie durch mitfühlende Zwischenrufe begleitet, unterstreichen diesen Spuk. Opfer-Täter-Grenzen verschwimmen: Die Regie zeigt komplexe Zusammenhänge, ohne den Täter deshalb aus der Verantwortung zu entlassen.

„Innocence“ im MIR in Gelsenkirchen: Hier Anke Sieloff, Sebastian Schiller, Elisa Marcelle Berrod, Danai Simantiri und Pablo Antonio Alvarado Meija (v.l.).
„Innocence“ im MIR in Gelsenkirchen: Hier Anke Sieloff, Sebastian Schiller, Elisa Marcelle Berrod, Danai Simantiri und Pablo Antonio Alvarado Meija (v.l.). © MiR | Monika Forster

Das Ensemble – es singt in acht Sprachen, weil es sich um eine internationale Schule handelt – wirkt bis zum letzten Statisten von der tiefen Anteilnahme angesteckt, die Stöppler und Rauhalammi für das Stück aufbringen. Alle tragen zur Empathiemusik bei: Margot Genet (Braut), Khanyiso Gwenxane (Bräutigam), Katherine Allen (als Schwiegermutter mit hysterischen Höhen), Benedict Nelson (Schwiegervater), Hanna Dóra Sturludóttir (als verbitterte Mutter eines ermordeten Mädchens). Die finnische Folksängerin Erika Hammarberg setzt mit karelischen Volks- und Spottliedern berührende Akzente.

Gerade noch rechtzeitig, bevor das Stück Längen entwickelt, biegt es ins Finale ein. In einer Abendmahl-Szene fragen sich die Figuren, wie es weitergehen soll. Die Gewalt hat Menschen reihenweise umgehauen, Hass und Schmerz und Angst hinterlassend. Im Publikum herrscht beklommene Stille, bevor es seiner Begeisterung Luft macht.

Termine und Karten: www-musiktheater-im-revier.de