Gelenkirchen. Wie Orchester, Chor und Ensemble des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier brillieren. Und mit welcher Entdeckung der Abend überrascht.

Der „Höllen-Cancan“, das wohl bekannteste Stück aus „Orpheus in der Unterwelt“, Jacques Offenbachs „Opèra bouffe“, diente am Samstagabend bei der Premiere im Musiktheater im Revier als mitreißende Zugabe zum Dank für anhaltenden Applaus. Das Publikum im Großen Haus war begeistert von der fast zweistündigen konzertanten, halb-szenischen Vorführung des Musikspektakels.

Die Neue Philharmonie Westfalen unter der Leitung von Rasmus Baumann war spritzig und leidenschaftlich; locker und leichtfüßig spielten sich die Musiker und Musikerinnen durch die zwei Akte. Sichtlich erfreut, bei einer Operette auch einmal mit auf der Bühne zu stehen, wurde das Orchester durch die Dramaturgie von Anna-Maria Polke Teil der Szenerie.

Sopranistin Margot Genet beeindruckt im Gelsenkirchener Musiktheater als Entdeckung

Betörend, streitbar, zauberhaft: Die „Göttinnen“ (Dongmin Lee, Wendy Krikken, Bele Kumberger, Almuth Herbst, v.l.) in der Premiere von Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ sorgten im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen für Vergnügen pur.
Betörend, streitbar, zauberhaft: Die „Göttinnen“ (Dongmin Lee, Wendy Krikken, Bele Kumberger, Almuth Herbst, v.l.) in der Premiere von Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ sorgten im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen für Vergnügen pur. © Musiktheater im Revier | Björn Hickmann

Hier verscheuchte Cellist Walter Gödde die imaginäre Stubenfliege Jupiter von seinen Saiten, am Ende des ersten Aktes verließen alle fluchtartig erfreut ihre Pulte, pardon, den Olymp, in Richtung lockende Unterwelt, und GMD Baumann bedauerte die im Hades gefangene Eurydike mit weichherzigen Blicken.

A propos Eurydike: Margot Genet glänzte in dieser Rolle, die junge Sopranistin aus dem Programm Opernstudio NRW ist eine herausragende Entdeckung: Perfekte Koloraturen mit einer ungewöhnlichen Weichheit und Grazie in den höchsten Lagen.

Gelsenkirchener Ensemble lässt stimmlich und schauspielerisch die Funken fliegen

Das gesamte Ensemble ließ stimmlich wie schauspielerisch die Funken fliegen. Joachim Gabriel Maaß als Jupiter mit herrlich komödiantischem Stil, Merkur Tobias Glagau eine tenorale Urgewalt, Martin Homrich ein imponierender Pluto. Die „Göttinnen“ standen dem in Nichts nach, Almuth Herbst ist eine betörende Venus, Bele Kumberger die streitbare Diana, Dongmin Lee die zauberhafte Cupido, weiblich mit Absicht, und Wendy Krikken eine überzeugende Minerva.

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Gemeinsam verwandelten sie mit ihrer Energie den schmalen Streifen vor dem Orchester in einen wahren Theaterraum, dass man fast sagen möchte: Wer braucht noch ein komplettes Bühnenbild? Eine fantastische Leistung!

Versuch, „Orpheus in der Unterwelt“ politisch korrekt ins 21. Jahrhundert zu holen

Über allem thronte wie im Original die „Öffentliche Meinung“, eine großartige Ileanna Mateescu. Ihre Anmut und Schönheit verkörperten ein Idealbild von Frau. Hier auch die einzige Kritik, nicht an der Inszenierung, aber an der ausgesprochenen Intention, zu zeigen, wie sich „Frau“ von „Blicken, Begierden und Beklemmungen“ löst und die Freiheit wählt. Denn die ist nicht vermittelt worden.

Mitte des 19. Jahrhunderts war es schon eine Errungenschaft, wenn Frauen nicht das machten, was Männer von ihnen erwarteten, aber schön sein, das sollten sie weiterhin. Das zeigt auch ein für seine Zeit fortschrittlicher Jacques Offenbach. Um das Sujet in moderne Zeiten zu holen, braucht es mehr als Göttervatersprüche aus dem Off, der Ambrosia „vegan und biozertifiziert“ anbietet, den Bacchus in die Emscher steckt und Europa als in die Jahre gekommenes Mädchen, das innere Unruhe verbreitet, zu bezeichnen.

Bis Ende Dezember vier weitere Vorstellungen

Weitere Vorstellungen von „Orpheus in der Unterwelt“ im Musiktheater im Revier gibt’s am 7. und 27. November sowie am 12. und 31. Dezember. Infos und Tickets finden Interessierte online auf der Homepage: www.musiktheater-im-revier.de

Kann man „Orpheus in der Unterwelt“ politisch korrekt ins 21. Jahrhundert holen? Und muss man? Diese Musik an sich ist schön, vergnüglich und herzerfrischend, das zeigten alle Künstler und Künstlerinnen der Produktion hochkarätig und mit eigenem Ausdruck.