Gelsenkirchen. Die Oper „Innocence“ ist dramatisch wie ein Thriller. Im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier erlebt sie die deutsche Erstaufführung.

Lässt sich eine schwere Schuld wie der Mord an mehreren Mitschülern jemals vergeben? Und welche Reaktionen lösen solche Schreckenstaten in den Opfern aus, die diese Bluttat überlebt haben? Es sind Fragen wie diese, denen Regisseurin Elisabeth Stöppler auf den Grund gehen will. Sie zeichnet für die Inszenierung von „Innocence“ verantwortlich, die am Samstag, 28. September, am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) nicht nur ihre Deutschland-Premiere feiert, sondern weltweit überhaupt erst zum zweiten Mal auf die Bühne kommt. Einblicke in die Proben verstärken den Eindruck, dass den Zuschauern ein ebenso packender wie intensiver Opern-Abend bevorstehen dürfte.

Die finnische Komponistin verstarb 2023 an den Folgen eines Hirntumors

„Innocence“ ist das letzte Werk, das die finnische Komponistin Kaija Saariaho vor ihrem Tod im Juni 2023 noch fertigstellen konnte. Sie verstarb im Alter von 70 Jahren in Paris an den Folgen eines Hirntumors. Inspiriert wurde sie zu diesem intensiven Thriller durch die Romane der Krimi-Autorin Sofi Oksanen, die dann später auch das Libretto zur Oper beisteuerte. Diese erlebte ihre Uraufführung im Jahr 2021 beim Festival d‘Aix-en-Provence. Es folgten weitere Stationen in Helsinki, London und Amsterdam. Und die Reaktionen von Publikum und Presse fielen überall gleichermaßen begeistert aus.

Zwei Handlungsstränge sind auf zwei übereinander gelagerten Ebenen des Bühnenbildes angesiedelt. Diese verschmelzen aber im Laufe der Oper „Innocence“.
Zwei Handlungsstränge sind auf zwei übereinander gelagerten Ebenen des Bühnenbildes angesiedelt. Diese verschmelzen aber im Laufe der Oper „Innocence“. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Dass die deutsche Erstaufführung nun ausgerechnet in Gelsenkirchen stattfinden darf, bezeichnet nicht nur MiR-Intdendant Michael Schulz als „einen absoluten Coup“. Andere renommierte Opernhäuser hätten sich damit nicht abfinden wollen und fragten an, ob das MiR ihnen nicht die deutsche Erstaufführung abtreten könne. Schulz verneinte, sodass dem MiR-Publikum nun gleich zum Spielzeit-Auftakt ein absolutes Highlight im Großen Haus präsentiert werden kann.

Acht verschiedene Sprachen: Übertitel werden dem Publikum helfen

„Natürlich haben wir uns auch mit der Uraufführung auseinandergesetzt“, erzählt Regisseurin Stöppler im Pressegespräch nach dem Ende einer Bühnenorchesterprobe. „Uns war aber klar, dass wir einen anderen Weg gehen und einen anderen Zugang zum Stück finden wollten.“ Um so schöner sei dann die Erkenntnis im Verlauf der Proben gewesen, dass dieses Vorhaben auch geklappt hat.

Der Text spiele eine ganz große Bedeutung, stellen Stöppler und Valtteri Rauhalammi, der die musikalische Leitung übernimmt, einstimmig fest. Die Akteure agieren in acht verschiedenen Sprachen. Übertitel werden dem Publikum aber die nötige Orientierung geben.

Zehn Jahre nach seinen Morden kommt der Attentäter auf freien Fuß

Das Multilinguale ergibt einen Sinn, weil die Handlung von „Innocence“ an einer internationalen Schule in Helsinki angesiedelt ist, an der sich vor zehn Jahren ein Attentat ereignet hat. Ein Jugendlicher hatte damals mehrere Mitschüler erschossen. Nun soll er nach langer Haftstrafe freikommen - ausgerechnet an jenem Tag, an dem sein Bruder heiratet. Und bei den Hochzeitsfeierlichkeiten trifft die Familie des Täters auf Hinterbliebene der Opfer. Aus dieser Konstellation zieht die Oper ihren Grundkonflikt. Und ihre enorme Kraft.

Die Überlebenden des Attentats tragen die Last und Schuldgefühle auch zehn Jahre später noch mit sich herum.
Die Überlebenden des Attentats tragen die Last und Schuldgefühle auch zehn Jahre später noch mit sich herum. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

„Das Stück springt ständig zwischen zwei Handlungssträngen hin und her - fast so, wie man es aus Filmen kennt“, sagt Stöppler. Der eine Strang sind die Hochzeitsfeierlichkeiten, der andere ein Zusammentreffen der Überlebenden von einst, die zehn Jahre nach der Tat inzwischen allesamt das Studentenalter erreicht haben. Das Publikum kann beide Ebenen parallel mitverfolgen, denn sie laufen im zweistöckig konstruierten Bühnenbild zeitlich parallel ab. Im Laufe der Inszenierung würden sich diese Ebenen laut Stöppler aber immer weiter annähern, bis sie am Ende verschmelzen.

Viele der Protagonisten targen eine Schuld in sich

In 25 Szenen und fünf Akten ist die Handlung gegliedert. Dennoch dauert das pausenlose Stück insgesamt nur 1:45 Stunde. „Für mich ist diese Oper wie eine griechische Tragödie, die sich nach und nach immer weiter auffächert“, so Stöppler. Denn irgendwann wird klar, warum der Täter einst überhaupt zum Mörder wurde. Und wie viele der Protagonisten tatsächlich selbst eine Schuld mit sich herumtragen. Und diese inneren Konflikte, sie würden nach und nach aus jedem Einzelnen herausbrechen.

Diese extremen Gefühlslagen kommen auch durch Saariahos Musik zum Ausdruck. „Am Anfang ist sie ätherisch und glitzernd“, sagt Dirigent Rauhalammi. „Zum Ende hin wird sie immer rauer und tiefer.“ Ganz wichtig: Die Komposition sei „nie verkopft, sondern immer durchscheinend“. Die Holzbläser der Neuen Philharmonie Westfalen hätten ebenso viel zu tun wie die Abteilung Schlagzeug. Es sei „im besten Sinne zeitgenössische Musik“, findet Rauhalammi.

Der Schrecken soll im Kopf der Betrachter entstehen

Wichtig ist Stöppler noch zu erwähnen, dass es trotz der ganzen Thematik „kein blutiger Abend“ wird. Auf der Bühne werde niemand sichtbar erschossen, niemand brutal gemeuchelt. „Der Horror und die Gewalt, sie sollen lieber in den Köpfen der Zuschauer entstehen“, sagt die Regisseurin. „Denn das hat eine noch viel beklemmendere Wirkung.“ Und dennoch sollen die Besucher nicht verstört werden. „Ich möchte, dass sie am Ende betroffen sind, ohne überwältigt zu sein.“

Weitere Daten und Fakten

Die Premiere am 28. September ist noch nicht ausverkauft. Es folgen bis zum 20. März 2025 acht weitere Vorstellungen. Karten ab 15 Euro gibt es an der Theaterkasse am Kennedyplatz oder unter: 0209 40 97 200.

Für Regisseurin Elisabeth Stöppler ist es eine Rückkehr nach Gelsenkirchen. Zwischen 2008 und 2015 führte sie bei sechs Opern die Regie. Besonders habe sie die Inszenierung von „Peter Grimes“ aus dem Jahr 2009 in Erinnerung behalten. „Damit hat für mich quasi alles begonnen. Mit dieser Inszenierung habe ich auch einen inneren Durchbruch erlebt“, erzählt sie.