Essen. In den Achtzigern brachte Kurt Steinwegs sechs Menschen auf brutale Art um. Wie er schon als Kind zu einem kaltblütigen, schamlosen Mörder wurde.

20 Mark sind es, die Kurt-Friedhelm Steinwegs am Ende erbeutet hat. Geld, das er braucht – wofür auch immer. Geld, für das er zum Mörder wird. Mit einem Stein schlägt der damals 13-jährige Kurt auf den ihm unbekannten Rentner Ernst Dorf ein – nimmt ihm erst das Leben, dann den Geldbeutel. Was in dem verhaltensauffälligen, bis dahin noch kleinkriminellen Jungen vorgegangen sein mag, weiß niemand. Vielleicht nicht mal er selbst.

Dass ihm das Leben kein leichtes Schicksal zugewiesen hatte, ist offensichtlich. Als fünftes von insgesamt acht Kindern wächst der geistig eingeschränkte Kurt ab seinem neunten Lebensjahr als Halbwaise auf. Die Stiefmutter, kaltherzig. Die Familie, zerrüttet. Im Herbst 1974 landet Kurt in einem Jugendhort im niedersächsischen Gifhorn,fernab der Heimat am Niederrhein. Dort, in der Ferne und Einsamkeit, soll er sein impulsives, zorniges Verhalten in den Griff bekommen. Dort mordet er zum ersten Mal.

Lydia Benecke: „Steinwegs’ Defizite konnten nicht aufgefangen werden“

„Das ist eine Erklärung, aber keine Entschuldigung“, sagt Lydia Benecke. Die Psychologin hat sich auf Gewalt- und Sexualstraftäter spezialisiert. Sie erklärt den Zusammenhang zwischen biologischer Veranlagung und sozialer Umwelt als Faktoren, die einen Einfluss darauf haben können, ob man zum Mörder wird. „Steinwegs’ Defizite konnten in seiner Familie offenbar nicht aufgefangen werden.“ Gepaart mit seiner Veranlagung zu emotionaler Instabilität und Impulsivität erwachse daraus eine Mischung, die einen gestörten Umgang mit Krisensituationen zur Folge habe.

Es braucht nicht viel, um den aufbrausenden Kurt in eine Krise zu stürzen. Da reicht ein falscher Blick, ein falsches Wort, schon entbricht ein Streit. „Diese Überreaktion ist die Grundlage für die Gewalt, mit der Steinwegs versucht, die Situation zu beherrschen“, sagt Benecke. Eine Gewalt, die letztlich sechs Menschen das Leben kostet. So wie 1980 den 17-jährigen Arnold Pomp, mit dem Kurt mittlerweile in der Essener Behinderten-Einrichtung Heimstatt Engelbert zusammenlebt. Beim Brombeerpflücken geraten die beiden jungen Männer in eine Auseinandersetzung, die Arnold mit dem Leben bezahlt. Kurt verscharrt die Leiche auf einem Schrottplatz, schneidet seinem Mitbewohner vorher noch den Penis ab. Genau das tut er auch bei vier anderen der Männer, die er ermordet – nur beim letzten nicht. Er sei nicht mehr dazu gekommen, wird er der Polizei beim Geständnis sagen.

Sadismus ist nicht immer die Ursache für gewalttätiges Verhalten

„Wieso Steinwegs seinen Opfern den Penis abgeschnitten hat, darüber lässt sich nur spekulieren“, ordnet Kriminalpsychologin Lydia Benecke ein. Es gebe mehrere Ansätze, die dieses Verhaltensmuster erklären können. „Der erste, naheliegende Gedanke ist Sadismus. Aber das muss nicht immer der Grund für so ein Vorgehen sein.“ Oft liege die Ursache für bestimmte Verhaltensmuster bei Serienmördern in der Vergangenheit begründet: „Eigene Traumatisierungserfahrungen können sich auf spätere Delikte auswirken.“

[Die Geschichte vom vergessenen Serienmörder Kurt Steinwegs gibt es ab dem 14.12. auch in unserem Podcast „Der Gerichtsreporter“ auf allen gängigen Streamingplattformen oder hier bei uns im Portal zu hören.]

In ihrer Arbeit mit Sexualstraftätern begegnet Benecke immer wieder eine extreme Form von Scham. Scham, die übergriffig gewordene Täter empfinden, wenn sie realisieren, dass sie selbst einst Opfer eines Missbrauchs geworden sind. „Sich damit auseinanderzusetzen, kostet die Täter oft mehr Kraft, als ihre eigenen, aktiven Übergriffe zu gestehen.“

Die Morde häufen sich: 1984 stirbt Willy Fleischer

Nachdem der junge Kurt 1974 als 13-Jähriger zum ersten Mal ein Menschenleben auslöscht, häufen sich seine tödlich endenden Ausraster: 1978, zwei Morde 1980, 1981 und der letzte Mord 1983. Dabei beginnt Kurt Anfang der Achtziger – mittlerweile in der Landesklinik Viersen-Süchteln in Behandlung – ehrliche Fortschritte zu machen.

Therapeuten attestieren eine Besserung der Verhaltensauffälligkeiten, Kurt sei nun folgsamer. Ein Silberstreifen am Horizont, der jäh verblasst, als ein Jäger 1984 einen grausigen Fund macht: Eine skelettierte, männliche Leiche, die die Polizei als Willy Fleischer identifiziert. Ein ehemaliger Patient der Landesklinik Viersen-Süchteln, der vom einen auf den anderen Tag ohne jede Spur verschwunden war. Der Verdacht fiel alsbald auf Kurt, hatte er doch eigens einer Schwester von Willys Tod erzählt, war aber nicht ernstgenommen worden.

Ermittler Hennes Jöris entlockt Steinwegs ein Geständnis

Ohne Umschweife und sehr detailreich berichtet Kurt Steinwegs schließlich dem damaligen Ermittler Hennes Jöris von den sechs Morden, die er in neun Jahren begangen hat – nachdem der Beamte in stundenlangen Gesprächen Vertrauen zu ihm aufgebaut hatte.

Zunächst sei Steinwegs bockig gewesen, habe aber irgendwann angefangen, aus seiner Kindheit zu erzählen, um dann unvermittelt mitzuteilen: „Ich habe sechs Menschen umgebracht.“ Meist im Streit, immer aus Wut, habe er den Jungen und Männern die Schädel eingehauen, die Knochen kaputt getreten und den Penis abgeschnitten. Wieso? Weil er wissen wollte, „wie das mit dem Pipi funktioniert“.

Der erste Mord: Überwinden einer enormen Hemmschwelle

„Einen Mord zu begehen, erfordert das Übertreten einer enormen Hemmschwelle“, sagt Lydia Benecke. „Viele Mörder sagen: ‚Wenn man einmal gemordet hat, ist diese Hemmschwelle nicht mehr da‘.“ Egal, welches Motiv man Kurts erstem Mord zuschreiben wolle – Geldgier, aufgestaute Aggression oder die pure Lust am Morden – Affekt müsse ein großer Treiber für ihn gewesen sein, erklärt Benecke.

Lydia Benecke arbeitet in einer JVA im Ruhrgebiet als Kriminalpsychologin. Ihr Schwerpunkt liegt auf Sexual- und Gewaltstraftätern.
Lydia Benecke arbeitet in einer JVA im Ruhrgebiet als Kriminalpsychologin. Ihr Schwerpunkt liegt auf Sexual- und Gewaltstraftätern. © IKZ | Manfred Esser/Märkischer Kreis

„Durch seine schweren Defizite mangelte es Steinwegs an Strategien, um negative Gefühle wie Wut auf angemessene Weise zu regulieren.“ Was für gesunde, stabile Menschen ein Schrei ins Kissen sei, sei für Kurt das Morden gewesen: „Wut rauszulassen, kann sich gut anfühlen. Das hat er sich gemerkt.“ Ein Lerneffekt: Ich morde, mir geht es besser. Andere, gar negative Konsequenzen, hat es für Kurt lange nicht gegeben.

Kurt Steinwegs zieht sein Geständnis zurück und wird dennoch verurteilt

Die scheint er allerdings vor Gericht zu befürchten und zieht sein Geständnis zurück, belastet stattdessen seinen Bruder. Dem Gericht reicht schließlich nach monatelanger Verhandlung das umfassende Geständnis, das Kurt bei seiner Festnahme zu Protokoll gegeben hatte. An seinen Taten bestehen keine Zweifel. Zehn Jahre Jugendstrafe, die Höchststrafe im Jugendstrafrecht, lautet das Urteil. Für zwei der zu Lasten gelegten Morde wird Kurt freigesprochen, Schuldunfähigkeit lautet hier das Urteil. Den Rest seines Lebens soll Kurt in der geschlossenen Psychiatrie verbringen, Sicherheitsverwahrung.

In Bedburg-Hau am unteren Niederrhein fristet Kurt-Friedhelm Steinwegs seit jeher sein Dasein. Vermutlich ein einsames, vielleicht ein geläutertes? Der pensionierte Ermittler Hennes Jöris hielt den Kontakt zu Kurt, inklusive Besuchen in der forensischen Klinik. „Man darf ihn nicht freilassen. Er weiß und er akzeptiert das.“

Spannende Verbrechen aus NRW im Podcast: Der Gerichtsreporter

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Alle zwei Wochen spricht Gerichtsreporter Stefan Wette mit Moderatorin Brinja Bormann über spannende Kriminalfälle aus NRW. Die Geschichte rund um den Serienmörder Kurt Steinwegs gibt es ab dem 14.12. (16 Uhr) im Podcast „Der Gerichtsreporter“ zu hören. Auf allen gängigen Streaming-Plattformen oder unter waz.de/gerichtsreporter.

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