Ein schrecklicher Verdacht: Sitzt ein geistig Behinderter seit 30 Jahren unschuldig in der geschlossenen Psychiatrie, weil ihm zu Unrecht der Mord an einem Siebenjährigen in Essen angelastet wird? Diesen Verdacht äußert der Hamburger Rechtsanwalt Achim Lüdeke, der die Wiederaufnahme des Sicherungsverfahrens wegen Mordes fordert. Denn für das Verbrechen vom 22. April 1985 gibt es seit 1997 das Geständnis eines anderen Mannes. Das Oberlandesgericht Hamm wies jetzt das Landgericht Dortmund an, dieses Geständnis in einer Beweisaufnahme zu prüfen.

Auf dem Weg zum Spielplatz

Der Mord erschütterte die Region in den 80er Jahren. Am Montag, 22. April 1985, ging der kleine Nara Michael von der elterlichen Wohnung in Stadtwald zum Spielplatz. Er kehrte nie zurück. Nara Michael traf seinen Mörder, der ihn missbrauchte und erwürgte.

Mit Großaufgebot samt Hubschraubern hatte die Polizei das Gebiet um den Schellenberger Wald abgesucht. Am Dienstagmorgen finden die Beamten Nara Michael nur 300 Meter von Zuhause entfernt, die Leiche des kleinen Jungen liegt in einem Ilexgebüsch. „Es bot sich das Bild eines Sexualverbrechens“, erklären Mordkommission und Staatsanwaltschaft. Das Kind war teilweise entkleidet, hatte Verletzungen am Hals.

Den Wald durchkämmen 60 Polizeibeamte nach Spuren und Tatwaffe. Allein, es gibt erst keine heiße Spur. Bis die Ermittler Hinweis Nr. 81 nachgehen, der sie zu einem Verdächtigen führt. Am 29. April 1985, während die Familie sich am Grab von Nara Michael verabschiedet, nehmen die Ermittler seinen mutmaßlichen Mörder fest: Dirk K., 21 Jahre alt, geistig behindert und aus der Nachbarschaft des Jungen.

Bei seiner Vernehmung erzählt er von seiner Begegnung mit Nara Michael auf dem Spielplatz: Der Junge steht allein vor der Rutsche. Er habe ihn angesprochen, doch der Siebenjährige läuft weg. Der junge Mann eilt hinterher, holt Nara Michael ein, zerrt ihn ins Gebüsch. Nach Angaben der Polizei soll der 21-Jährige sich bereits früher kleinen Jungen genähert und „bei günstiger Gelegenheit sexuelle Handlungen an ihnen vorgenommen haben“. Gewalttätig soll er bis dahin nie gewesen sein.

An diesem Nachmittag schreit Nara Michael. Da legt der 21-Jährige die Hände um den Hals des Kindes und würgt es, um nicht entdeckt zu werden, um es zum Schweigen zu bringen. So sagt Dirk K. bei der Polizei aus, doch wiederholt das Geständnis vor Gericht nie wieder, streitet die Tat vielmehr ab. Am 11. November 1986 aber wird er nach zwei Tagen wegen Mordes verurteilt und in die Psychiatrie eingewiesen.

Elf Jahre später meldet sich ein Anwalt bei den Ermittlern. Für den Mord an Nara Michael habe sein Mandant, der damals in der Therapie war, ein Geständnis abgelegt. Die Staatsanwaltschaft prüft die Aussage, stuft sie als bedeutungslos ein. Sie passe auch nicht zu den objektiven Gegebenheiten, bestätigt am Freitag die Essener Oberstaatsanwältin Birgit Jürgens, heute Leiterin der Kapitalabteilung.

Danach ruht das Verfahren wieder – bis der Hamburger Anwalt Achim Lüdeke, spezialisiert auf Unterbringungsrecht, Kontakt zu dem in der Psychiatrie untergebrachten Dirk K. bekommt. Er hört von dem zweiten Geständnis, lässt sich die Akte kommen und bekommt erhebliche Zweifel an der Täterschaft von Dirk K..

Beim zuständigen Landgericht Dortmund fordert er die Wiederaufnahme des Essener Mordverfahrens. Er hält das zweite Geständnis für glaubhaft, es enthalte Täterwissen. Die Essener Staatsanwaltschaft hält davon nicht viel. Aber auch das Dortmunder Schwurgericht sieht die Argumentation des Anwaltes nicht als zwingend an, auf 26 Seiten weist es 2014 den Antrag in einem Beschluss zurück. Das reicht dem Oberlandesgericht in Hamm nicht aus.

Jetzt wird eine andere Kammer des Dortmunder Landgerichtes den Fall prüfen müssen.