Kriminalpsychologin Lydia Benecke therapiert Schwerstkriminelle, gibt aber auch Vorträge für Jedermann. Wir baten sie zum Gespräch.
Von Kindesbeinen an faszinierten sie Verbrechen: Lydia Benecke sammelte schon in jungen Jahren Zeitungsausschnitte von Kriminalfällen wie andere Starschnitte aus der „Bravo“. Später machte sie ihr Hobby zum Beruf. Die 37-Jährige ist heute als Kriminalpsychologin sowie Therapeutin in einer Sexualstraftäterambulanz tätig, schreibt nebenbei Bücher – und gibt ihr Wissen und ihre Erfahrungen bei Vorträgen an das Publikum weiter. Patrick Friedland sprach mit Benecke über ihre Auftritte, ihre Arbeit und einschlägige Fernsehproduktionen.
Was macht eine Kriminalpsychologin auf der Bühne?
Ich will Menschen zeigen, dass es sinnvoll ist, Straftaten zu erforschen und mit Straftätern therapeutisch zu arbeiten. Es ist eine Art Kriminalpsychologieunterricht für Anfänger auf einem Level, das jeder versteht. Ich zeige, mit welchen Modellen wir arbeiten und wie sich diese auf reelle Fälle anwenden lassen. Meine Bücher benutze ich dabei gar nicht, es ist keine Lesung, sondern es sind bebilderte Vorträge. Was mir wichtig ist: Elemente aus Fällen, mit denen ich therapeutisch arbeite(te), führe ich dabei nicht so aus, dass man den konkreten Fall erkennen könnte. Es wäre falsch, jahrelang ein Vertrauensverhältnis zu den Tätern aufzubauen und den Fall dann aber so in die Öffentlichkeit zu bringen, dass das Publikum ihn von Presseartikeln irgendwie wiedererkennt. Deshalb nutze ich für die Illustration von typischen Entwicklungsgeschichten, die zu Straftaten führen können, ausschließlich Fallbeispiele, in denen ich nicht therapeutisch tätig war.
Gehen Leute auch schon mal aus den Vorträgen, weil es ihnen zu krass wird?
Habe ich so noch nicht bewusst erlebt, bisher haben es immer alle gut ausgehalten. Ich zeige keine Horror- oder Ekelbilder. Die Leute, die kommen, können sich in etwa auch denken, dass es um harte Themen und Fälle geht. Im Prinzip liegt das Grauen eher in der psychologischen Dynamik der Fälle.
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Interagieren Sie mit dem Publikum?
Das Problem ist: Die Vorträge gehen drei bis vier Stunden, wenn man dann noch Zwischenfragen zulässt, sprengt es den Rahmen. Fragen stellen dürfen die Leute aber gerne in den Pausen oder nach der Show, ich nehme mir Zeit, bis alle Fragen beantwortet sind.
Wie setzt sich Ihr Publikum zusammen?
Sehr unterschiedlich. Da sind viele dabei, die grundsätzlich Psychologie spannend finden, sich mit Straftaten auseinandersetzen und sicher auch Leute, die in der Psychiatrie, Justiz oder bei der Polizei arbeiten, die Berührungspunkte mit Tätern und Opfern haben. Es kommen aber auch Leute, die mir hinterher sagen, dass sie selbst Opfer einer Straftat wurden oder Angehörige von Opfern und Tätern. Sie wollen Antworten finden zu den Dingen, mit denen sie biografisch zu tun haben.
„Nach zehn Stunden Arbeit mit Straftätern gucke ich Crime-Dokus“
Finden sie diese Antworten denn?
Sicherlich ist das ja auch mental sehr schwierig. Definitiv ist es sehr schwierig. Es ist schon vorgekommen, dass Gäste zu mir kamen und sagten,dass der Vortrag ein Baustein in ihrer persönlichen Therapie ist. Einmal war eine Frau da, die Überlebende eines Serienmörders war. Sie wollte erfahren, wie dieser Mensch so werden konnte.
Wie erfüllend ist das für Sie, solche Leute im Publikum zu haben und helfen zu können?
Ich finde es sehr schön, dass verschiedene Menschen positive Dinge aus den Vorträgen ziehen können. Diese Frau sagte, dass es für sie sehr hilfreich war. Allerdings empfehle ich in solchen Fällen, nicht ohne Absprache mit einem Therapeuten zu kommen. Viele Menschen sagen oft, sie hätten eine neue Perspektive kennengelernt. Vorher denken sie „Alle erschießen!“, hinterher merken sie, dass das alleine keine Straftaten verhindern würde.
Wieviel Energie kostet es, sich mit solchen Meinungen auseinandersetzen zu müssen?
Es geht. Eigentlich kostet es mich viel mehr Energie, meinen Job zu machen. 30 Stunden pro Woche im Gefängnis und in der Sexualstraftäterambulanz, dazu Vorträge, nicht öffentliche Fortbildungen für bestimmte Berufsgruppen. Eine Sieben-Tage-Woche ist bei mir die Regel, aber es ist ja auch mein Hobby. Mein langjähriger Lebensgefährte Sebastian unterstützt mich sehr und begleitet mich auf Reisen, sonst wäre dieses Arbeitspensum wohl auch nicht machbar.
Wie schalten Sie ab?
Wenn ich im Rahmen meines Kernjobs Feierabend habe, übernachte ich manchmal bei meinem„sozialen Bruder“ Boris. Der interessiert sich auch für Crime-Themen. Ich komme also nach zehn Stunden Arbeit mit Tätern in die Wohnung und wir gucken dann noch Crime-Dokus auf Netflix (lacht).
In einem Ihrer Bücher schrieben Sie über sich selbst: „Ich nehme Menschen in psychologische Bausteine zerlegt wahr.“ Können Sie privat noch befreit Smalltalk führen?
Ich nehme gewisse Dinge schon automatisiert wahr. Es gibt Menschen, bei denen in Interaktion etwas Besonderes hervor scheint. Da kommen direkt Vibrationen rüber, wie deren Persönlichkeit sein könnte. Bei Leuten mit „weniger schillernden Persönlichkeiten“ ist es weniger deutlich.
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Empfinden Sie auch mal bestimmte Gefühle wie Sympathie oder Antipathie gegenüber den Tätern, die Sie therapieren?
Ich sehe Täter von Anfang an als Klienten, nicht als Privatpersonen, daher kommen da keine persönlichen Gefühle auf. Das wäre auch problematisch. Es ist eine Arbeitsbeziehung, da muss es Distanz geben. Ich versuche, eine therapeutische Beziehung in dem Sinne aufzubauen, dass sich der Mensch mir gegenüber öffnen kann, sich in der Bearbeitung seiner Themen unterstützt und nicht abgelehnt fühlt. Private Emotionen würde die Therapie verzerren und den Erfolg gefährden.
Hatten Sie schon mal Angst vor einem Täter?
Noch nicht. Selbst wenn eine Situation angespannt ist, habe ich gewisse Vorstellungen davon, wie ich deeskalieren kann. Und das hat bisher immer funktioniert.
Nachts schlafen funktioniert auch?
Die Arbeit belastet meinen Schlaf Gott sei Dank nicht.
Was war denn der krasseste Fall, mit dem Sie je zu tun hatten?
Als ich selbst 25 war, hatte ich im Gefängnis einen gleichaltrigen Klienten, der uns nach einiger Zeit offenbarte, dass er in einem Kindermissbrauchsring aufwuchs und später genau das mit kleinen Jungen tat, was er selbst jahrelang als Kind erlitten hat. Er erkannte das Unrecht dahinter gar nicht. Da stellt man sich auch die Frage ‘Bis wohin ist er Opfer und ab wann Täter?’ Es ist schwer, so etwas zu gewichten und auseinanderzudividieren. Wer dann schreit ‘’Bringt den um’’, dem kann ich dann nur antworten ‘Du willst den umbringen, weil er die Folge dessen auslebt, was er leider in seiner Kindheit erlebt hat.’ Man darf nicht so leicht urteilen, ihn natürlich aber auch nicht von Schuld freisprechen. Er ist ein erwachsener Mann, der weiß, dass das nicht erlaubt ist. Die allermeisten Täter wollen aber auch gar keine Täter sein und sind verwirrt, warum sie so geworden sind.
„Krass“ ist aber für mich eine falsche Kategorie. Für mich ist ein Kindesmissbrauchsfall in seinen Konsequenzen genauso tragisch wie ein Tötungsdelikt oder eine Tötungsserie. Straftaten erzeugen immer eine lange Kette von Leid bei vielen Menschen, auch bei den Angehörigen des Täters. Es gibt allerdings Dinge, die mich etwas länger beschäftigen, Fälle, in denen ich beispielsweise davon ausgehen muss, dass unsere Maßnahmen nicht ausreichen, um jemandem zu helfen, wo klar ein Rückfallrisiko besteht, die Person formal oder inhaltlich nicht angemessen mitwirkt oder mitwirken kann. Daraus folgt dann zum Beispiel auch mal ein Bewährungswiderruf. Oder wenn beispielsweise ein Mensch innerhalb seiner Familie Missbrauch beging und anschließend weiter - häufig auch auf Wunsch der Familie - mit dieser Kontakt pflegt. Dann führen wir auch Gespräche mit Angehörigen und versuchen mit diesen einen für die Familie gangbaren Weg zu vereinbaren, bei dem weitere Traumatisierungen verhindert werden. Innerfamiliärer Missbrauch ist einer der komplexesten Arbeitsbereiche überhaupt.
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Gibt es Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Straftätern?
Die Altersspanne ist riesig. Es hängt weniger vom Alter ab, was für ein Tätertyp jemand ist, eher von der Persönlichkeitsausprägung. Was bei Gruppentherapien aber auffällt, dass Täter, egal wie alt, oft Überschneidungen in ihrer Biografie feststellen. Der Mitt-60er sagt auch öfters zu dem Mitt-20er ‘Es ist deine Zukunft, denk mal darüber nach.’ Ältere versuchen, den Jüngeren ein warnendes Vorbild zu sein.
„Die Serien ’Sherlock’ und ‘Dexter’ fand ich ganz nett“
Wie locken Sie Täter während einer Therapie aus der Reserve, die zunächst gar nicht reden wollen?
Oft wollen die Leute am Anfang gar nichts sagen oder kommen mit Sachen wie ‘War ‘n blöder Fehler, passiert mir nicht nochmal und ich brauche auch gar keine Hilfe.’ Durchschnittsbürger denken auch, dass die meisten Täter direkt immer mit „schwerer Kindheit“ ankommen – dem ist nicht so. Die wollen nicht immer sofort Mitgefühl erhaschen. Sie tun sich oft schwer, über die besonders schmerzhaften Dinge im Leben zu reden. Sie wollen nicht an diese denken und fürchten bezogen auf ihre Straftaten, beim Gegenüber Ablehnung zu sehen. Nach einer vertrauensbildenden Zeit bekommen sie irgendwann mit, dass wir nicht direkt von ihren Taten angeekelt reagieren oder sie verurteilen. Wenn wir ihnen das zeigen, kommen sie Stufe für Stufe aus sich heraus. Bei manchen dauert es länger, bei anderen nicht. Irgendwann stellen sie ihre Taten auch weniger geschönt vor und hören auf, sich selbst anzulügen. Sie müssen lernen, mit ihren Taten umzugehen und Zusammenhänge verstehen, vorher sind die Gedanken auch oft so verzerrt, dass sie sich selbst als Opfer ansehen.
Was halten Sie denn vom TV-Krimiserien?
Ich gucke eigentlich ziemlich wenig von diesem Zeug. „Sherlock“ und „Dexter“ habe ich gesehen, die waren ganz nett. Die Macher waren bemüht, sich zumindest ein bisschen von aktuellen Forschungsergebnissen leiten zu lassen und Teile der Realität abzubilden. „CSI“ sah ich nicht, was ich aber von Kollegen gehört habe, ist, dass echte Ermittlungen über einen viel längeren Zeitraum mit viel mehr Personal ablaufen. Das wäre aber im 45-Minuten-Format sehr dröge. So kann ein Experte alleine da gleichzeitig 30 Sachen lösen (lacht). Die unternehmen gar nicht erst den Versuch, die Realität abzubilden, aber es soll ja auch in erster Linie unterhalten.
Hätten Sie denn Lust, bei einer festen TV-Reihe mitzuwirken?
Nicht wenn es zu viel Zeit kosten würde. Meine Kernarbeit und meine Fortbildungen mache ich zu gerne, daher sind TV-Produktionen nur ein gelegentlicher Nebenjob. Ab und zu mache ich ja was fürs Fernsehen, Stern TV, Aktenzeichen XY, ein Unterformat von „Anwälte der Toten“ mit dem blöden Untertitel „Die schlimmsten Serienkiller der Welt“, der ist wieder so wertend. Das Problem bei TV-Produktionen ist für mich häufig, dass sie dir ein Konzept vorlegen, um dann im letzten Moment wieder noch den Titel zu ändern. Der Inhalt, die grundlegende Idee, hatten mich aber überzeugt, dann konnte ich in dem Fall auch mit dem blöden Titel leben. Wir hatten 20 Folgen gedreht, die haben mich seinerzeit nur vier Arbeitstage gekostet.
>>>INFO: Lydia Benecke auf Tour
Termine: 24.1. Attendorn (Stadthalle), 25.1. Gladbeck (Mathias-Jakobs-Stadthalle), 14.2. Lünen (Geschwister-Scholl-Gesamtschule), 6.3. Dortmund (Fritz-Henßler-Haus), 28.3. Essen (Weststadthalle), 29.3. Wuppertal (Die Börse), 17.4. Krefeld (Kulturfabrik), 24.4. Bottrop (Observatorium im Grusellabyrinth), 9.5. Siegen (Lÿz).
Karten ab 25 €, weitere Termine und Infos zu den Themen der Vorträge gibt’s online auf
www.lydiabenecke.de.