Essen. Noch nie war die Wahlbeteiligung so gering wie diesmal. Autor Thomas Brussig („Am kürzeren Ende der Sonnenallee”) verteidigt jedoch die Nichtwähler. Nicht zu wählen, könne auch bedeuten, in Freiheit von der Politik zu leben. Das sei etwas Kostbares.

Herr Brussig, haben Sie gewählt?

Thomas Brussig: Das fällt unter das Wahlgeheimnis! Grundsätzlich aber finde ich: Nicht zu wählen kann auch bedeuten, in Freiheit von der Politik zu leben. Das ist etwas Kostbares. Auch wenn es natürlich nicht schön ist für die Regierung, mit einer schwindenden Legitimation zu arbeiten.

Anders gefragt: Braucht Demokratie Beteiligung?

Brussig: Ja. Ich habe nur meine Zweifel, ob Wahlen in der Form, die wir kennen, noch eine zeitgemäße Form dieser Beteiligung sind.

Was wäre zeitgemäß?

Brussig: Was weiß ich? Ich will ja nur anregen, Demokratie mal anders zu denken, die Phantasie ins Spiel zu bringen. Für mich als Ostler ist es eben nicht selbstverständlich, dass demokratische Willensbildung so abläuft, wie wir sie jetzt erleben. Da ist 'ne Kiste mit nem Schlitz, und in den werfen wir alle vier Jahre 'n Zettel mit Kreuzchen. Das mag vor 200 Jahre 'ne Errungenschaft gewesen sein, aber heute ist doch mehr möglich.

Stellen Sie sich vor, zu Beginn des Jahres bekäme jeder Wähler hundert oder tausend Machtquanten, die er dann TED-mäßig einsetzen kann, wenn Fragen anstehen, die seine Lebensrealität betreffen. Das Gesundheitswesen hat in diesem Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt. Wenn nun aber im Jahr 2012 Gesetze erlassen werden, von denen heute nur eingeweihte Kreise etwas wissen, habe ich keine Möglichkeit, Zustimmung oder Ablehnung in die Entscheidung, die mich ja dann auch betrifft, einfließen zu lassen.

Gleichzeitig deuten Sie das Gefühl, es gehe um nichts, auch positiv: als Zufriedenheit.

Brussig: Klar. Wenn ich eine bestimmte Regierung unbedingt loswerden oder an der Macht haben will, dann gehe ich zur Wahl. Wenn der Schuh nicht so drückt, dann ist Nichtwählen eine völlig rationale Entscheidung. Eine sinkende Wahlbeteiligung kann ja auch ausdrücken, dass viele das Gefühl haben, für sie steht nichts auf dem Spiel. Deshalb frage ich, ob eine Legislaturperiode nicht verlängert werden könnte. Wenn wir uns nicht für die nächsten vier, sondern für die nächsten zehn Jahre entscheiden müßten, dann würde im Wahlkampf über echte Zukunftsfragen geredet werden – und sicher nicht über die Gepflogenheiten beim Gebrauch von Dienstwagen.

Wer sind diese 28,8 Prozent Nichtwähler?

Brussig: Es gibt die Enttäuschten und Frustrierten, die nicht zur Wahl gehen, es gibt die Gleichgültigen – und es gibt die Zufriedenen. Ich glaube, dass bei dieser Wahl die Gleichgültigen eine große Rolle gespielt haben, weil die Unterschiede zwischen den Parteien kaum zu erkennen waren – selbst für politisch interessierte Menschen. Die konnten ihre Unentschlossenheit bis zum Schluß nicht auflösen.

Andererseits wird nun so getan, als bedeute die neue Regierung einen harschen Wechsel.

Brussig: Wenigstens haben wir wieder klare Verhältnisse – wir wissen, wo die Mitte verläuft und was links und rechts von ihr ist. Ob wir die gern unterstellten konservativen Schweinereien wirklich so erleben werden, da habe ich meine Zweifel. Denn die wollen ja wiedergewählt werden, und Angela Merkel hat 2005 gelernt, was an sozialen Zumutungen möglich ist und was nicht. Sie wird „Konservatismus mit Herz“ fahren. In der Opposition wird sich nun die SPD als Partei der sozialen Gerechtigkeit wieder entdecken.

Neben der Linken.

Brussig: Ich finde trotzdem, dass die Situation heute vergleichbar ist mit der vor 20 Jahren. Eine gelb-schwarze Regierung steht einer rot-grünen Opposition gegenüber. Daß die jetzt rot-rot-grün ist, klingt wie ein Stottern, aber das verdeutlicht auch, daß Rot und Rot zusammenfinden muß. Es kann doch nicht sein, daß eine linke Mehrheit nie zum Zuge kommt. Die Linke ist im Osten die zweitstärkste Kraft und mobilisiert dort sehr viele Wähler, ohne die die Wahlbeteiligung nochmals deutlich niedriger wäre.

Erwarten Sie nun große Impulse?

Brussig: Ich bin schon gespannt, wie Angela Merkel jetzt regiert – sie hat ja jetzt die Regierung, die sie sich immer gewünscht hat, und kann ihr unzweifelhaftes politisches Talent nun auch ganz zur Entfaltung bringen. Auf die nächsten Wahlen bin ich allerdings jetzt schon gespannter, als ich es auf die vom Sonntag war.