Essen. Autor Ingo Schulze ("Simple Storys") zeigt sich angesichts des Wahlergebnisses "fassungslos". Er hätte sich eine andere politische Landschaft gewünscht - gerade wegen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise.

Herr Schulze, haben Sie sich gefreut am Sonntag – oder geärgert?

Ingo Schulze: Ich habe mich geärgert! Aber aus meiner Sicht galt es ja sowieso nur, zwischen zwei Übeln zu wählen: Große Koalition oder Schwarz-Gelb. Meine Hoffnung für die Zukunft wäre eine Koalition aus Grünen, Linken und SPD. Nach den Erfahrungen dessen, was wir Finanz- und Wirtschaftkrise nennen, hätte man doch eigentlich mal aufwachen müssen!

Und das Gegenteil ist eingetreten.

Ingo Schulze: Auch wenn es nicht mehr überraschend kommt, bin ich doch fassungslos, besonders über den Erfolg der FDP. Es gibt offenbar viele, die da ihre Interessen am Besten vertreten sehen, ich denke aber, dass Schwarz-Gelb für die gesamte Gesellschaft verheerend sein wird. Die Polarisierung der Gesellschaft wird weitergehen, ja beschleunigt werden. Man wird sehr viel von Freiheit und Eigenverantwortung zu hören bekommen, das heißt: Kümmere dich selbst, deine Steuern brauchen wir für andere Dinge. Ich sehe unsere Sozialstrukturen bedroht. Dieser Privatisierungsschub, der ja nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch in der Bildung, im Verkehr, eigentlich in allen Bereichen zu sehen ist, der wird Auftrieb bekommen, zum Schaden des Gemeinwesens.

Nicht nur die FDP, auch die Linke ist stärker geworden.

Ingo Schulze: Dass auf Bundesebene diese Koalition prinzipiell ausgeschlossen wurde, fand ich merkwürdig. Mich störte das prinzipielle Nein. Ich nehme an, dass die SPD auch dafür die Quittung bekommen hat. Das Ergebnis hat natürlich mit der Agenda 2010 zu tun, mit Hartz IV. Und: Unter Rot-Grün sind ja auch die Hedgefonds in Deutschland zugelassen worden, die Kürzung des Spitzensteuersatzes.

Wie haben Sie die letzte Schwarz-Gelbe Regierung in Erinnerung?

Ingo Schulze: 1990 hat Kohl die Wahl mit großen Versprechen gewonnen – und die Ostdeutschen wollten an den Weihnachtsmann glauben. Damals hätte man eine ganze Menge besser machen können, statt einer Vereinigung wurde es nur ein Beitritt. Das hätte auch für den Westen eine Chance bedeutet, sich zu wandeln. Ich will jetzt keine alten Schlachten schlagen, aber 1989/90 begann eine Phase, die heute im Schlechten die FDP verkörpert: Man betet den Markt als Gott an und opfert ihm viele sinnvolle Regeln. Man darf nicht alle Arten des Geldverdienens erlauben. Das wusste man bis 1989 im Westen besser.

Wie groß sind die Unterschiede zwischen Ost und West?

Ingo Schulze: Ach, eigentlich interessieren die mich gar nicht so – aber die Frage ist natürlich berechtigt. Heute geht es doch um Oben und Unten, um Teilhabe und Nichtteilhabe, um Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Manches Problem prägt sich im Osten schärfer aus als im Westen, aber es sind nicht verschiedene Probleme.