Berlin. Strategische Überlegungen haben ganz wesentlich das Abstimmungsverhalten geprägt. Zu diesem Schluss kommen die Wahlforscher beim Blick auf die schwarz-gelbe Konstellation. Merkel kam mit einem blauen Auge aus der großen Koalition. Die SPD-Klientel verweigerte vielfach den Urnengang.
Der Wähler ist letztlich doch ein ganz schön ausgebuffter Zeitgenosse, wenn man der Analyse der Wahlforscher glauben darf. Er interessiert sich zwar nicht für alle politischen Details, die die Astronauten im Raumschiff Berlin aufregend finden. Aber er kann zwei und zwei zusammenzählen, wenn es um Koalitionen geht, und vertraut auf gesunden Menschenverstand, wenn ihm Wahlkämpfer das Blaue vom Himmel versprechen. Selbst wenn er zuhause bleibt, beweist sich der Bürger oft als Taktiker - so sehen es die führenden Meinungsforscher.
Damit erklärt sich das Ergebnis der Bundestagswahl aus Sicht der Experten recht schlüssig: Die SPD hatte keine Machtoption und keine mobilisierenden Themen und stürzte deshalb ab, wie Forsa-Chef Manfred Güllner meinte. Die CDU hielt sich - trotz Kratzern aus der Großen Koalition - mit vagem Wohlfühlwahlkampf noch einigermaßen, während die CSU mit unrealistischen Versprechen unterging - so erklärte es der Chef der Forschungsgruppe Wahlen, Matthias Jung. Und die FDP hatte mit Steuern und Wirtschaft genau das richtige Thema - das unterstrich Richard Hilmer von Infratest Dimap.
«Zweite Etappe des Regierungswechsels»
«Es hat sich gezeigt, dass die Weisheit der Wähler am Ende obsiegt», fasste Hilmer zusammen. Das Ergebnis mit dem Wechsel zu einer schwarz-gelben Koalition sei die «zweite Etappe des Regierungswechsels». 2005 hätten sich die Wähler noch nicht ganz getraut und zur Ablösung von Rot-Grün den Zwischenschritt der Großen Koalition gewählt.
Jetzt weise das starke Ergebnis der FDP den Weg zum Koalitionswechsel. «Die Wähler nutzen ihr Stimmrecht taktisch», sagte Hilmer. CDU-Chefin Angela Merkel habe mit ihrem präsidialen Wahlkampf Stimmen in der Mitte gewonnen, auch Wählerinnen zog sie in stärkerem Maße als früher an. Dafür verlor sie männliche Wähler und Wirtschaftsliberale, aber eben an den erklärten Wunschpartner FDP.
Noch in den letzten Tagen vor der Wahl wanderten nach Erkenntnissen der Experten die Wähler im bürgerlichen Lager aus taktischen Gründen zwischen Union und FDP. «Die Gesamtstrategie ist aufgegangen», meinte Hilmer. Wer im bürgerlichen Lager die Fortsetzung der Großen Koalition verhindern wollte, der habe nur die Option Liberale gehabt, ergänzte Jung.
«Langer Prozess der Auszehrung der SPD»
Die neue Koalition verdankt ihre Existenz aber auch der hausgemachten Schwäche der SPD, auch darin waren sich die Forscher einig. Allensbach-Chefin Renate Köcher sprach von einem «langen Prozess der Auszehrung der SPD in der Regierungsverantwortung». Forsa-Chef Güllner sagte es drastischer: «Die SPD zerfällt.» Und zwar nicht erst seit seit 2002 oder 2005, sondern bereits seit Jahrzehnten, weil sie ihre lokale Verankerung eingebüßt habe.
Aktuell habe sie nun auch noch dramatische Fehler gemacht - die Kehrtwende gegenüber der Linken in Hessen, die gescheiterte Präsidentschaftskandidatur von Gesine Schwan und auch der Wahlkampf selbst mit seinen aus Güllners Sicht «hirnrissigen Plakaten». Die SPD-Themen hätten nicht gezogen, etwa der Mindestlohn. «Das interessierte letztendlich keinen», meinte Güllner, und das Versprechen neuer Arbeitsplätze habe keiner geglaubt.
Zwei Millionen SPD-Anhänger verweigerten Wahl
Einige SPD-Anhänger trieb das nach Analyse der Institute in die Arme anderer Parteien - und zwar zu allen anderen von rechts bis links. Sehr viele aber ließen sich nicht abwerben, sondern blieben aus Unzufriedenheit über die Entscheidungen der Regierungszeit - Hartz IV und Rente mit 67 - und über fehlende Machtoptionen zu Hause: Zwei Millionen SPD-Anhänger hätten sich nicht an der Wahl beteiligt, vermeldete Hilmer, der damit auch zum Teil die außerordentlich niedrige Wahlbeteiligung von nur 70,8 Prozent erklärte.
Was die Sozialdemokraten und ihr Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier hätten anders machen können, blieb allerdings offen. Denn eine Öffnung für eine Koalition mit der Linken wäre aus Güllners Sicht der «Todesstoß» gewesen - zu unbeliebt ist Rot-Rot bei der Mehrheit der SPD-Wähler. Aber auch ein klares Bekenntnis zur Großen Koalition, als klar wurde, dass Rot-Grün und die Ampel keine Chance haben, hätte nach Jungs Worten wohl nur theoretisch die Chancen auf ein besseres Wahlergebnis eröffnet.
Volkspartei noch nicht am Ende
Ob die Schwäche von Union und SPD und der Triumph der kleinen Parteien FDP, Grüne und Linke von Dauer sein werden, können auch die Experten nicht genau einschätzen. Die Frage nach dem Niedergang der Volksparteien «ist noch nicht zu beantworten», sagte Hilmer. Köcher hält den Abgesang für verfrüht. Selbst die SPD habe die Chance, wieder aufzusteigen, wenn sie keine «katastrophalen Fehler» mache. Auch ideologische Konflikte im Wahlkampf, die in diesem Jahr des Krisen-Pragmatismus so ganz fehlten, kann sie sich für die Zukunft wieder vorstellen.
Jung und Güllner sehen vor allem die mögliche Renaissance der SPD deutlich skeptischer. Die Volksparteien hätten die Chance, wieder größer zu werden. «Aber ob sie sie ergreifen?» - Güllner meldete Zweifel an.