Berlin. Das Berlinale-Leitungsduo Carlo Chatrian und Mariëtte Rissenbeek über die Berliner Filmfestspiele, ihre Stars und ihren Anspruch an die Beiträge.

Seit Juni 2019 ist der Italienier Carlo Chatrian, 51, der künstlerische Leiter der Berlinale. An seiner Seite verantwortet die Niederländerin Mariette Rissenbeek als Geschäftsführerin die Finanzen und Organisation des weltweit größten Publikumsfestivals. Nach den Corona-Einschränkungen der vorigen zwei Jahre, findet die 73. Ausgabe der Filmfestspiele Berlin, vom 16. bis 26. Februar, in gewohnter Form statt. Als Jury-Präsidentin konnte Kristen Stewart gewonnen werden, für Steven Spielberg gibt es den Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk. Mit dem Berlinale-Leitungsduo sprach unsere Mitarbeiter Dieter Oßwald.

Der Ausnahmezustand ist auch für die Berlinale vorüber. Kehrt in die 73. Ausgabe wieder die Normalität zurück in das Bären-Rennen und den Filmmarkt?

Rissenbeek: Wir sind alle sehr froh, dass wieder Normalität einkehrt. Der European Filmmarket hat bereits alle Stände vermietet. Wie vor der Pandemie strömt die Branche zum Festival, um diese Plattform für den persönlichen Austausch zu nutzen. Für viele bedeutet die Berlinale traditionell den Kickoff für das Kinojahr - welchen viele in den vorigen zwei Jahren sehr vermissten.

Wie weit spiegeln sich aktuelle Krisen im Programm wider, oder ist es dafür zu früh?

Chatrian: Die Welt ist eine andere. Themen wie Ukraine und Iran werden sich sicherlich auch stark in den Filmen wiederfinden. Wobei die Auswahl aktuell noch nicht abgeschlossen ist, wir sind derzeit noch in der Phase der Sichtungen.

In diesem Jahr wird die Beleuchtung des Roten Teppichs etwas reduziert

Hat das Thema Energiesparen praktische Auswirkungen auf das Festival?

Rissenbeek: Die Berlinale setzt traditionell auf ökologisches Handeln. Fast überall kommt LED-Licht zum Einsatz, aber man kann den Roten Teppich ja nicht völlig im Dunkeln lassen. Allerdings werden wir die Beleuchtung etwas reduzieren.

Für Klima-Aktivisten bieten 3.000 internationale Journalisten ein veritables Aufmerksamkeits-Forum. Befürchten Sie Aktivitäten von Teppich-Klebern oder Tomatensuppen-Werfern?

Rissenbeek: Inhaltlich sind wir als Berlinale bei den Klima-Aktivisten. Wir hatten früh den grünen Roten Teppich, der aus Recycling-Material besteht. Kaffeebecher wurden längst durch eigene mitgebrachte Becher ersetzt, um Abfallvermeidung deutlich zu machen. Eine Gegenhaltung, wie sie mittlerweile bei den Berliner Straßenblockaden entsteht, ist allerdings problematisch. Wir hoffen, dass Abläufe des Festivals nicht gestört werden. Wir werden einen sinnvollen Weg finden müssen, wie etwa vor zwei Jahren, als „Extinction Rebellion“ nicht auf, sondern vor dem Roten Teppich demonstrierte.

Ein Leuchtturm, der keine Energie braucht, ist Steven Spielberg, der den Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk erhält. Genügt da ein Roter Schal als Gast-Geschenk oder gleicht das eher einem Staatsempfang, wenn der weltweit erfolgreichste Regisseur zu Besuch kommt?

Chatrian: Für mich zählt vor allem Spielbergs Rolle im Weltkino, für die Fans und die ganze Stadt wird der Besuch dieses Ausnahmeregisseurs ganz gewiss zum großen Ereignis. Wir haben Steven Spielberg eingeladen, weil seine jüngster Film „Die Fabelmans“ wunderschön ist und sehr wichtig. Als Staatsbesuch ist das allerdings nicht geplant (lacht).

Nach zwei Jahren Pandemie ist der Glamour des Festivals wichtig

Wie viele Stars benötigt ein Festival, um auf die richtige Betriebstemperatur zu kommen?

Chatrian: Nach zwei Pandemie-Jahren sind die Glamour-Teile des Festivals durchaus wichtig. Es gibt für die Berlinale allerdings keine angestrebte Anzahl von Stars, viel wichtiger finde ich, dass sie ein möglichst unterschiedliches Spektrum abdecken. Also Regisseure wie Spielberg oder Schauspielerinnen wie Kristen Stewart, aber eben auch Filmschaffende, die bedeutsam für die Gesellschaft sind, etwa aus dem Dokumentarfilm-Genre.

Im vorigen Jahr lief mit dem Schweizer Drama “Unruh” ein wahres Meisterwerk, das im Januar in die Kinos kommt. Sind Sie enttäuscht, dass dieser Diamant nicht mehr gefeiert worden ist?

Chatrian: Das ist immer eine Frage der Perspektive. „Unruh“ war deutlich sichtbar auf dem Festival. Für einen Filmemacher ist das ein bedeutender Schritt, internationale Anerkennung zu bekommen. Den Erfolg konnte ich letzten Monat bei einem Arbeitsbesuch in Taipeh erleben, wo in einem Büro das chinesische Poster von „Unruh“ an der Wand hing. Das ist ein großartiger Erfolg für einen kleinen, sehr starken Film. Ein Festival wie die Berlinale kann das ermöglichen: Wir bringen Filme in die Welt!

Hat sich das Verhältnis zu Streamern mittlerweile normalisiert? Oder geht das Pendel in die andere Richtung? Der Netflix-Chef verkündete vor kurzem anlässlich „Glass Onion“, ihm sei die Kinoauswertung völlig unwichtig.

Chatrian: Wir sind im Gespräch mit den verschiedenen Streaming-Anbietern. Deren Verhältnis zu Festivals ist nach wie vor sehr gut und wichtig. Wie es perspektivisch mit der Auswertung im Kino weiter gehen wird, braucht allerdings noch mehr Zeit und Erfahrung.

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Wie steht es um eigene Online-Auswertungen auf eigenen Festival-Kanälen?

Rissenbeek: Wir möchten ganz bewusst auf das Kino-Erlebnis setzen. Die Begegnung der Menschen gehört zum elementaren Bestandteil eines Festivals. Was im Netz passiert, hat eine viel höhere Flüchtigkeitsaufmerksamkeit als was im realen Kino passiert.

Seit vier Jahren sind Sie nun auf der Brücke der Berlinale. Gibt es strukturelle Änderungen, die Sie noch gerne umsetzen möchten?

Chatrian: Im Moment möchten wir vor allem eine normale Berlinale haben - für uns ist das ja eigentlich noch die erste Ausgabe. Für die Festivalfilme von 2020 gab es gar keine Kinoauswertung, wir haben also gar keine Ernte unserer Früchte sehen können. Raum für strukturelle Veränderungen gibt es immer, aber das werden wir erst nach dieser Berlinale besprechen.

Welche drei Qualitäten benötigt ein Film, um für die Berlinale tauglich zu sein?

Chatrian: Für mich gibt es vor allem eine Qualität, die wichtig ist: Ein Film muss mich überraschen!