Oberhausen. Das Konzertexamen ist der höchste Abschluss einer Musikhochschule. Wie läuft so eine Prüfung ab? Wir haben Pianistin Raimu Satoh begleitet.

Raimu Satoh starrt die Wand an. Ein Blick wie ein Wintertag, eingefrorene Miene, hinter der Bühne des Congresscentrums Oberhausen. Im ungeheizten Flur ist es zu kalt für das schwarze Kostüm, die zierliche Frau verkriecht sich in sich und ihre Winterjacke. Eine alte Neonröhre brummt ihren Bass. Das Orchester flüstert von der Bühne her, durch die dicke Holztür. Sogar die Inspizienten atmen leiser.

Satoh senkt den Blick, nestelt an ihrem Daumen und an ihren kurzen, schwarzen Haaren, die Sekunden zum Auftritt quälen sie, ob sie jede davon festhalten oder, husch husch, verscheuchen will, verrät ihr Körper nicht. Als das Orchester schweigt, wirbelt Satohs Blick herum, der Inspizient nickt, Winterjacke abgeworfen. Die Tür öffnet sich und lässt den Applaus hinein. Für Raimu Satoh gibt es kein Zurück mehr, nicht mal per Blick. Ihre schwarzen Lackschuhe tragen sie zum wichtigsten Konzert ihres bisherigen Lebens.

Bachelor und Master mit 1,0: Jetzt kommt das Konzertexamen

Neun Stunden zuvor: Eisige Luft am Bühneneingang. Zigarettenqualm steht in der Luft. Die Musiker der neuen Philharmonie Westfalen machen Witze. Für sie beginnt an diesem Freitagmorgen ein normaler Arbeitstag. Zu dieser Zeit steckt Raimu Satoh mit dem Zug im Ruhrpottirgendwo fest. „Immer gefährlich, sein Leben in die Hände der Bahn zu legen“, grinst ein finnischer Hüne im Saal des Congresscentrums. Das ist Henri Sigfridsson; Klavierprofessor der Folkwang Universität der Künste. Eine schnöde Verspätung? Sigfridsson hat zu viel erlebt, um nervös zu werden. Sorgen um die musikalische Klasse seiner Schülerin Satoh macht er sich sowieso keine, warum auch.

Er kennt die Zahlen. Mit 19 Jahren kam sie nach Essen, um bei ihm zu studieren. Bachelor und Master mit 1,0 bestanden – und mit Auszeichnung. Jetzt: Examen. Der höchste Abschluss, den Musikhochschulen zu vergeben haben, der hochbegabte Studierende zu konzertreifen Solisten formen soll. Konzertreif ist Satoh für Maurice Ravels Klavierkonzert in G-Dur – von ihr und Sigfridsson gewählt – eindrucksvoll, ausdrucksvoll, schwierig. „Aber et hätt noch immer jot jejange“, schmunzelt Sigfridsson, seine Studienjahre in Köln haben den Finnen nicht nur musikalisch geprägt. Seine joviale Art vertreibt eine Menge Anspannung aus dem Raum.

Volle Konzentration: Raimu Satoh bei der letzten Hauptprobe in den Räumen der neuen Philharmonie Westfalen.
Volle Konzentration: Raimu Satoh bei der letzten Hauptprobe in den Räumen der neuen Philharmonie Westfalen. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Raimu Satoh schafft es auf die Minute, trotz verspäteter Bahn. Kalt ist es im holzverkleideten Saal, Satoh sagt noch schnell ihrem Professor Hallo. Sie rubbelt die letzte Dezemberkälte aus ihren Händen und sprintet auf die Bühne, Begrüßungen und nette Worte quittiert sie mit einem bemühten Lachen, das ihr Gesicht fast den ganzen Tag zeichnen wird. Wenn sie Klavier spielt, ist es anders. In ihrer Garderobe spielt sie nicht, das bemühte Lächeln ist zurück. Sigfridsson aber gratuliert zur gelungenen Probe. Besser ginge es schon noch, an der Dynamik will er noch schrauben, Orchester leiser, Satoh lauter. Henri Sigfridsson hämmert in die Tasten des Garderobenklaviers. Am langen Schminktisch lehnt seine Schülerin und lauscht.

„Zu nett, zu lieb“?

Hier, in der Enge des kleinen Räumchens, klingt das Klavier gewaltig. Es schallt von den weißen, nackten Wänden zurück, selbst der muffige Teppichboden schluckt kaum Klang. „Zu nett, zu lieb“, sagt Sigfridsson und zeigt auf eine Stelle im vollgekritzelten Klavierauszug, Satoh lacht, eine Freundin, mittlerweile zur moralischen Unterstützung gekommen, lacht noch lauter. „Auf der Bühne klingt es katastrophal“, sagt Satoh und schubst ihren Lehrer beinahe vom Klavierhocker.

Dass das Konzert im Saal gut klingt, will die Schülerin ihrem Meister nicht so recht glauben. Sie spielt die Weisungen des Professors hastig nach, ihre Freundin will helfen und schmeißt beim Umblättern fast die Noten vom Pult. Wäre aber auch egal, Satoh schaut beim Spielen ohnehin nur ihrem Professor ins Gesicht, auf der Suche nach jeder kleinen Regung. Besser oder schlechter jetzt? Sigfridsson muss los, lässt noch ein paar Tipps da. Die Noten zum Sprudeln bringen, die Hände für ein kräftiges Forte fallenlassen und nicht fester zudrücken, „wie Barenboim, nicht wie Sokolow“. Raimu Satoh spielt, die Passage klingt anders, das entlockt ihr ein Lachen, diesmal ein entspanntes.

Die Stille vor der Sturm

Sigfridsson gibt seinem Professorenkollegen Oliver Leo Schmidt die Klinke in die Hand, Schmidt dirigiert an diesem Abend und will den Ravel noch einmal durchgehen. Satoh gibt klare Anweisungen während Schmidt ein unsichtbares Orchester dirigiert, „hier habe ich nicht verstanden, wo die ,Eins’ war“, murmelt die Pianistin. Neuer Versuch, dann klappt es. Auch Schmidt hat einen Tipp: „Vergessen Sie nicht, die Konzertmeisterin zu grüßen.“

Wo ist die Eins: Am Vormittag ihres Examenstages geht Pianistin Raimu Satoh mit Dirigent Oliver Leo Schmidt Ravels Klavierkonzert durch.
Wo ist die Eins: Am Vormittag ihres Examenstages geht Pianistin Raimu Satoh mit Dirigent Oliver Leo Schmidt Ravels Klavierkonzert durch. © Jonas Schlömer | Jonas Schlömer

19 Uhr, für Raimu Satoh aus dem japanischen Kakogawa ist es keine Stunde mehr bis zum Konzert. Jetzt hastet sie die Treppen in den Eingeweiden des Congresscentrums hoch. In ihre Garderobe, pfeffert Schal und Winterjacke auf einen Stuhl und setzt sich ans Klavier. Aus ihren Kopfhörern tönt sie selbst, der Mitschnitt vom Vormittag. Sie pausiert, spielt eine Passage, dann wieder Stille. Ihr Blick spiegelt wilde Entschlossenheit.

Raimu Satoh schaltet die Welt aus

Vor dem Garderobenfenster Hotelgäste von Gegenüber. Die Zeitschaltuhren zollen der Dämmerung Tribut und schalten die Beleuchtung ein. Und dass sie noch ihre Maske trägt, bemerkt Raimu Satoh vielleicht überhaupt nicht. Die Außenwelt blendet sie aus. Einzig ein schneller Blick auf die Handyuhr ist Satohs Eingeständnis ihrer Ausnahmesituation. Zeit, sie alleine zu lassen.

Die letzte Stille: Raimu Satoh hört sich vor dem Examen noch einmal ihre Aufnahme an. Dann schweigt das Klavier.
Die letzte Stille: Raimu Satoh hört sich vor dem Examen noch einmal ihre Aufnahme an. Dann schweigt das Klavier. © Jonas Schlömer

Eine halbe Stunde vor der größten Prüfung ihres Lebens will die Solistin solo sein. Ohne Professor, ohne Dirigent, ohne Freundin, ohne Reporter. Ohne Musik. Aus ihrer Garderobe klingt kein Klavier mehr. Als der Inspizient sie hinter die Bühne führt, blicken Satohs Augen ins Leere. Das vierköpfige Gremium wartet. Im ungeheizten Flur ist es zu kalt für das schwarze Kostüm, die zierliche Frau verkriecht sich in sich und ihre Winterjacke. Dann schweigt das Orchester. Der Inspizient öffnet die Tür. Für Satoh gibt es kein Zurück mehr.

Am 9. Dezember 2022 hat Raimu Satoh den ersten Teil ihres Konzertexamens bestanden. Der kammermusikalische Prüfungsteil folgt im Frühling.