Dortmund. Anna, Vladyslav oder Mark: Die Kinder und Jugendlichen flohen aus der Ukraine nach Dortmund. Hier bekommen sie Instrumente – und Musikunterricht.
Ein Klavier kann man unmöglich mitnehmen auf der Flucht. Und Mark, der hat in den Wirren des Krieges in Kiew, in Angst und Eile an alles gedacht, nur nicht an sein Saxophon. Aber die Musik haben die ukrainischen Kinder mitgebracht nach Dortmund: Sie üben jetzt auf elektrischen Pianos, geliehenen Synthesizern und geschenkten Blasinstrumenten. Den Unterricht ermöglicht der Landesverband der Musikschulen NRW über sein Projekt Heimat:Musik.
Vladyslav hat seine Notenblätter vergessen, dabei sind sie alle in seinem Kopf. Der Zwölfjährige entschuldigt sich nach jedem Takt, er fängt hier an, schlägt da eine Taste, Mama Olena sucht unterdessen Videos von ihrem Sohn auf dem Handy. Aber er hat G-Dur doch gefunden, spielt spontan eine Sonatine, aus lauter Aufregung läuft ihm der Beethoven etwas davon. Vlad kann auswendig auch die Historiette von Prokofjew, der ebenfalls geboren wurde, wo heute die Ukraine ist. Und, klar, die Nationalhymne. Die können sie alle.
Anna aus Charkiw ist „die stärkste Schülerin, die ich habe“
Anna und Vladyslav aus Charkiw, Mark aus Krywyi Rih in Dnipropetrowsk, Stanislava, Yelysei oder Sofia. Für diese Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine war die Frage nach Musikunterricht eine der ersten, die sie in der Fremde stellten. Aus Musikerfamilien stammen viele, Vlads Papa ist Komponist, Mark (14) spielte Blockflöte schon mit drei Jahren. Ihre deutschen Lehrer nennen sie „außergewöhnlich“, von Mark sagt sein Saxophon-Dozent Evgeny Ring, der russische Wurzeln hat, er habe „massives Talent“. Anna (14) ist für Klavierlehrerin Marina Goldiner, selbst aus der Ukraine, „die stärkste Schülerin, die ich habe“. Mark bei der Jazz Challenge und Stanislava beim Thürmer-Klavierwettbewerb in Bochum gewannen kürzlich sogar Preise.
Aber es gibt auch die, die in Deutschland erst die Musik für sich entdeckten: wie die Geschwister an einer Grundschule, die in Dortmund mit Klavier und Geige begonnen haben. Oder die Sechs- und die Achtjährige, die Marina Goldiner gern noch aufnehmen würde. Oder die Kinder der Eltern, die neulich einem Jungen mit Cello-Koffer einfach folgten – auf der Suche nach einem Ort, an dem es Musik für den Nachwuchs gab. „Wer Musikunterricht braucht“, sagt die stellvertretende Leiterin der Dortmunder Musikschule, Christine Hartman-Hilter, „soll ihn kriegen.“
Projekt Heimat:Musik bezahlt den Musikunterricht
Das Projekt Heimat:Musik, seit 2015 etabliert, bezahlt ihn, gesichert ist das vorerst aber nur bis Ende des Jahres. 15 Musikschüler aus der Ukraine werden allein in Dortmund derzeit gefördert, weitere 15 aus anderen Herkunftsländern. Was nicht ginge, würden nicht auch andere helfen: Vladyslav, der zuhause zwei Klaviere hatte, bekam seinen ersten Synthesizer, ein kleines Gerät, von seiner Gastfamilie geschenkt. Für Marks Alt-Saxophon sammelten Dortmunder Musiker, die selbst aus der Ukraine stammen. Das Geld für andere Instrumente spielte der Förderverein der Musikschule ein: alle Konzerteinnahmen für die Flüchtlingskinder!
Anna bekam ein E-Piano geliehen – auch wenn das nicht die beste Lösung ist für eine Pianistin. „Schlimm“ findet das ihre Lehrerin sogar, die 14-Jährige muss am Flügel bestehen im Januar bei „Jugend musiziert“. Goldiner hat einen kleinen Schüler, der mit Kopfhörern „nur noch ganz leise spielen“ kann: Er darf in der Mietwohnung die Nachbarn nicht stören. „Man hört ihn gar nicht!“ Aber es ist besser als nichts, die Jugendlichen suchten ja „einfach nur eine Tastatur, auf der man spielen kann“.
Bei Flucht und Ankommen halfen Dortmunder Jazzer
Mark Maksymovich hätte Dortmund vielleicht nicht einmal erreicht, hätten nicht die Musiklehrer selbst geholfen: Die Flucht gelang, weil die Glen Buschmann Jazz-Akademie gemeinsam mit Kollegen aus Rostow am Don sie organisierte. Rostow ist die Partnerstadt von Dortmund – in Russland. Die Städtefreundschaft ruht gerade, die Musikerfreundschaft tut es nicht. Man kennt sich seit 25 Jahren, es waren die Russen, die in Dortmund anklopften wegen dieses besonderen Schülers aus der Ukraine. Bei der Wohnungssuche unterstützten bekannte Jazzer aus der Stadt, den Unterricht erteilen nun Evgeny Ring und der Leiter der Jazz-Akademie, Uwe Plath.
Der sagt dem 14-Jährigen nicht dauernd, dass er „etwas Besonderes“ sei, er will ihn fordern, erwartet Professionalität. „Er muss schon üben!“ Mark lächelt, er mag es, wie sie mit ihm umgehen: Dortmund sei „sehr strukturiert“ und das Niveau sogar höher als in Kiew, wo er zuletzt lernte. Und er habe „mehr Möglichkeiten aufzutreten“. Zwar spielte der Saxophonist schon in der Ukraine in drei Bands und einem Begabten-Orchester, aber mit Jakob, Magdalena und Johannes im Jugend Masterclass-Ensemble räumte er zuletzt beim Wettbewerb in Viersen ab.
Verständnis über die Sprache der Musik
Über solche Gruppen versucht die Musikschule die Ukrainer zu integrieren, „so lange ihr hier seid“, sagt Hartman-Hilter. Es sei wichtig, „dass alle hier ankommen“. Eine Geigenschülerin spielt jetzt im hauseigenen Orchester. Man versteht sich mit Händen, Füßen, Bildern, sagt Uwe Plath, vor allem aber über die Musik: Es gebe „ein harmonisches Verständnis“, nicht nur, wenn „wir etwas spielen, das der andere kennt“. Die Sprache der Musik. Vlad sagt, auf ihn wirke sie „beruhigend“, aus einer Mazurka von Chopin zieht der Zwölfjährige Energie.
Seit der Flucht aus dem brennenden Charkiw und seit ihm die Gasteltern das E-Piano schenkten, spielt Vladyslav „every day in this Klavier“, und einmal in der Woche am Flügel in der Musikschule. Das ist zwar weniger als in der Ukraine, wo er zweimal Unterricht bekam und Musiktheorie noch dazu. Anna Leontieva übte zuhause sogar fünfmal die Woche bei ihrer Dozentin und hat auch weiterhin Kontakt: Bis zu zwei Wochenstunden schalten die beiden sich online zusammen, dann spielt Anna vor, was sie in Dortmund gelernt hat. „Aber der Klang ist nicht gut, die Leitung verzögert.“ Und in Charkiw hat ihre Lehrerin oft nicht einmal mehr Strom. Aber über die Musik hält die Verbindung.