Essen. Jennifer Egans aktueller Roman „Candy Haus“ verzettelt sich in einer Fülle von Themen und Erzählern. Eine Geschichte wie ein großes Puzzle.

All die Themenkomplexe sind drin in diesem Roman, die in Amerikas Gegenwartsliteratur immer neu gedreht und gewendet werden: Nachbarschaftsstreit in den Vororten, der nicht einmal vor Elektrozäunen zwischen den Grundstücken haltmacht. Collegefreundschaften, die in den aberwitzigsten Katastrophen enden. Campusrivalitäten mit ungeahnten Folgen. Rassentrennung, die hoch motivierend wirkt. Countrysänger der abgedrehtesten Art. Die schöne neue Welt und das Ankerwerfen in der alten. Durchdrehende Männer und Frauen, die ihre Kinder auch im dritten Lebensjahr noch nicht abgestillt haben.

Besuche im Weißen Haus und Fluchten an diverse Enden der Welt. Jede Menge problematische Beziehungen, Nervenkliniken, Psychopharmaka und Nächte in der Zelle. Geschäfte, Geschäftigkeit und das allgegenwärtige Scheitern. Invaliden und Investments. Implantierte Kameras, Napster-Diebstahl, außerplanmäßige Ausflüge, die aus dem Ruder laufen. Traumata und ihre Deutungen, übermotivierte Forscher und Fluchtbewegungen aus dem weltweiten Netz …

Immer wieder wechseln in „Candy Haus“ die Erzähler

„Sitcoms lassen vieles weg, darum sind sie so lustig“, heißt es an einer Stelle. Jennifer Egan aber lässt nichts weg, deswegen ist der aktuelle Roman der Pulitzer-Preisträgerin des Jahres 2011 auch nicht lustig, jedenfalls nicht durchgehend. Das ist so, weil die Autorin durchgeht mit ihrer Stofffülle. Dabei lässt sie manche der Personen ihres erfolgreichsten Romans „Der größere Teil der Welt“ wieder auftreten. Wie ein großes Puzzle ist ihr „Candy Haus“ gebaut. Immer wieder wechseln die Erzähler, wobei alles in disparaten Textsorten wild durch die Zeit zwischen den 1990er und den 2030er Jahren mäandert. Viele Kreise schließen sich so spät, dass man ihre Ausgangspunkte schon vergessen hat.

Manche tun es gar nicht. Die Details stimmen, doch ist es wie im Internet, das mit Daten überfüttert ist. Es ist eine enorm müßige Arbeit, sie zu ordnen und zu sortieren, um dann zum letztlich enttäuschenden Schluss zu gelangen: „Menschliches Verhalten ist in keiner Weise originell.“

Romanheld Bix Bouton hat es geschafft

Alles beginnt mit Bix Bouton. Der ist farbig und hat es geschafft. Als Media-Mogul ist er so prominent, dass er nicht mehr allein durch New York laufen darf. Er ist als High Tech-Guru und Firmenchef ein führender Mitgestalter der neuen Welt. Dabei bedient er sich der Forschungen Miranda Klines, die Formeln und Algorithmen für menschliches Empfinden entdeckt hat und vor den Folgen ihrer Ergebnisse davonläuft. In einer archaisch indigenen Gemeinschaft hatte sie ihre Entdeckungen gemacht, wo die Geschichten aller noch Gemeingut sind.

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Dies in die Welt als Ganzes zu transplantieren ist Bix Boutons Geschäftsidee. Sein Programm „Besitze dein Unterbewusstes“ wurde 2016 zum Renner im Netz. Wer sein Bewusstsein ganz oder in Teilen in ein Online-Kollektiv hochlud, erhielt Zugang zu den anonymen Gedanken und Erinnerungen all der Menschen auf Erden, die das auch getan haben. So entstand ein Tummelplatz des wechselseitigen Beobachtens. Im Ergebnis wurden Verbrechen aufgeklärt, Kinderpornografie, Alzheimer und Demenz besiegt, Vermisste aufgespürt und aussterbende Sprachen erhalten.

Wer sich von Emotionen leiten lässt, muss verschwinden

Abweichler wurden sanktioniert, bis eine schwache Gegenbewegung sich daran machte, ihrerseits Löschvorgänge im Netz zu implantieren. Auf beiden Seiten gilt, dass derjenige die Daten verpfuscht, der sich noch von Emotionen leiten lässt. Deswegen muss er verschwinden und kann dann ja durch Proxys und Avatare ersetzt werden.

Bix Bouton wird eingangs wie die Hauptfigur des Romans eingeführt, um im Fortgang der durch ihn losgetretenen Ereignisse weitgehend zu verschwinden. Er ist der Nerd über dem Wimmelbild, in dem dann in vielen Varianten durchgespielt wird, was seine Innovation für eine Armee von Einzelnen bedeutet. Jennifer Egans Roman reiht sich unter die aktuell grassierenden Dystopien und fügt dem, was mit Dave Eggers‘ „Circle“ begann, eine neue Spielart hinzu.

An jedem Abzweig steht ein neuer Protagonist

Dabei folgt sie mehr den Kommunikationsformen sozialer Netzwerke als Romangesetzen. An jedem Abzweig steht ein neuer Protagonist. Das kann man modern finden oder avantgardistisch, das ist aber vor allem verwirrend, weil immer neue Fenster aufgehen, die höchstens lose mit Vorangegangenem zusammenhängen. Das große Ganze zerfällt in ein Konglomerat aus Sequenzen, das schlussendlich vor allem in der Frage mündet, ob man den anderen wirklich besser kennt, wenn man mehr von ihm weiß. Alles zu wissen ist dann ganz nah daran, gar nichts mehr zu wissen – auch eine Erkenntnis.