Essen. „The Circle“ heißt jetzt „Every“: US-Autor Dave Eggers setzt seinen Erfolgsroman fort und malt düstere Bilder einer volldigitalen nahen Zukunft.

„Wenn wir etwas gegen Depressionen bei Jugendlichen tun wollen, müssen wir sie unbedingt so oft und so lange wie menschenmöglich an ihren Smartphones halten“, meint App-Entwicklerin Delaney. Denn nur dann könne man genug Daten sammeln, denn: Wie jemand schreibt, wonach er sucht, was er kauft, all das kann dann auf Depressionen abgeklopft werden. Und so vielleicht gar erste Suizidgedanken verraten! Die natürlich – was für ein absurder Gedanke – keinesfalls von allzu üppigem Smartphone-Konsum herrühren könnten...

Klingt fantastisch? Ist es zum Glück auch. Dave Eggers hat seinen Erfolgsroman „The Circle“ fortgesetzt, der 2013 erschien und schon vier Jahre später auf die Leinwand kam, mit Emma Watson und Tom Hanks prominent besetzt – ein Film, auf den die Protagonisten im neuen Roman stolz sind und staunen über den Schauspieler, der alte Schreibmaschinen sammelt (das ist Hanks). Der „Circle“ heißt jetzt „Every“: Der Software-Gigant hat jüngst einen großen Online-Versandhandel geschluckt und verleibt sich jede Woche drei weitere Firmen ein. Die Mitarbeiter, „Every­ones“, arbeiten auf einer künstlichen Insel in der San Francisco Bay.

Dave Eggers hat „Every“ kurz nach zwei Pandemien datiert

Hier, an der Uferpromenade, hat Delaney Wells ihr erstes Vorstellungsgespräch. Ähnlich wie Mae Holland in „The Circle“ ist sie das neue und staunende Auge, das uns einer futuristisch anmutenden Welt nahebringt – und hier selbst skurrile Apps entwickelt, die die Qualität von Freundschaften testen sollen oder, siehe oben, die eigene Psyche. Alles nur dazu, das System ad absurdum zu führen, um der Welt das wahre, fatale Gesicht von Every zu enthüllen. Ob das klappen kann?

Dave Eggers hat „Every“ kurz nach zwei Pandemien datiert, die deutliche Corona-Züge tragen und die Menschen noch ein bisschen gläserner werden ließen, um der Gesundheit willen. Selbst die Hunde müssen Teil der totalen Überwachung werden, wenn sie am Strand herumtollen wollen – Delaneys Mitbewohner Wes fährt seinen Hund Hurricane nun im Buggy durch die Straßen, der vielen Glasscherben wegen. Denn Wes gehört zur Gemeinschaft der Trogs: Jenen Menschen, die sich dem Internet und seinen Datensammlern und Manipulatoren verweigern. Dass er trotzdem bei Every ein Jobangebot annimmt, ist eine der erstaunlichen Wendungen des Romans.

Der Roman spiegelt die Sehnsucht nach Überlegenheit und Selbstoptimierung

Der allerdings noch weniger Roman ist, als es „The Circle“ war, noch etwas mehr Essay und Manifest. Als Autor hat der 51-jährige Eggers schon oft starke Impulse der Realität genutzt: die eigene Familiengeschichte (in seinem gefeierten Debüt „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“), Hurrikan Katrina („Zeitoun“), die Lebensgeschichte eines Kaffee-Importeurs („Der Mönch von Mokka“). Seine Werke spielen in der Wüste von Saudi-Arabien („Ein Hologramm für den König“, ebenfalls mit Tom Hanks verfilmt), in Alaska („Bis an die Grenze“) oder im Kopf des vorigen US-Präsidenten („Der größte Kapitän aller Zeiten“).

Emma Watson als Mae Holland im Film „The Circle“.
Emma Watson als Mae Holland im Film „The Circle“. © Universum Film | Universum Film

Diesmal beleuchtet er die gegenwärtige Sehnsucht nach moralischer Überlegenheit und Selbstoptimierung: In einem Taumel aus „gut gemeintem Utopismus und pseudofaschistischer Verhaltenskonformität“ werden unliebsame Verhaltensweisen „geshamt“, also an den virtuellen Pranger gestellt: „rücksichtslose Autofahrer, laute Stöhner in Fitnessstudios, Benutzer von Wegwerfplastik“. Wo einst die Menschen vor Gott gut sein wollten, wollen sie es jetzt vor dem allwissenden virtuellen Auge. Auf dem Every-Campus wird jedes Gespräch aufgezeichnet und auf Tabuwörter untersucht – zugleich aber gibt es einen kleinen Wettbewerb, möglichst viele seltene Wörter zu benutzen, den Wortschatz zu erweitern. Das kann doch nicht schlecht sein, oder?

Am vielleicht lustigsten aber ist der Klappentext, der mit den Worten beginnt: „Kein Mensch liest diese Klappentexte“ und mit literarischen Verbesserungsvorschlägen fortfährt. Weg mit den Charakteren, die keiner mag! Dank der Software wissen wir auch: Ein guter Roman hat höchstens 579 Seiten. Und es kommt genau ein Hund drin vor.

Dave Eggers: Every. Kiepenheuer & Witsch, 579 S., 25 €