Matthias Wittekindts neuer Retro-Krimi „Die Schülerin“ ist auch als Ferienlektüre geeignet. Ein neuer Fall für den pensionierten Ermittler Manz.

Der Autor Matthias Wittekindt hat sich – nach einem Doppel-Berufsleben als Regisseur und Architekt – seit etwa zehn Jahren spät, aber unaufhaltsam in die erste Reihe deutscher Krimiautoren geschrieben. Zunächst hatte er Schauplätze im benachbarten Ausland, in Frankreich oder Belgien gewählt und uns durch die subtile Charakteristik von Milieus und persönlichen Konflikten beeindruckt – nur aus der Erzählung selbst, ganz ohne besserwisserische Psychologie oder dergleichen.

Verbrechen kamen einfach vor, wie im richtigen Leben. Und wirkten wie ein fotografischer Entwickler, ein Katalysator für die tieferen menschlichen Probleme.

Der erste Fall führt zurück bis zum Ende der Mauerzeit

So auch jetzt, nachdem Wittekindt den Fokus auf seinen Wohnort Berlin richtet – allerdings mit einem interessanten „Retro-Effekt“. Sein biederer Serien-‚Held‘ namens Manz wurde nach einem Nach-Wende-Karrieresprung als Kriminaldirektor in Dresden pensioniert, hatte zuvor aber lange Jahre bei der Berliner Kripo gearbeitet – etwa so wie sein Autor schreibt: unaufdringlich, unspektakulär, aber sensibel und effektiv.

Spießiger Alltag und soziale Konflikte im West-Berlin der späten 70er

Der Retro-Effekt liegt darin, dass Manz aus dienstlichem Grund oder persönlicher Neugier aus dem Heute in Fälle zurückgeholt wird, in denen er „damals“, vor dreißig oder vierzig Jahren ermittelt hat. Der erste, „Vor Gericht“ (2021), führt zurück bis zum Ende der Mauerzeit, der aktuelle, „Die Schülerin“, noch weiter, ins Westberlin der späten 70er Jahre, mit seiner speziellen Mischung von spießigem Alltag und sozialen Konflikten. Im problembeladenen Neukölln – da sind wir schon in der Story – treffen illegale Zuwanderung, Alltagskriminalität und Dealerei am Hinterausgang eines Gymnasiums auf den reformpädagogischen Anspruch einer „Erziehung zur Freiheit“, meist für „Zöglinge“ aus besseren Kreisen.

Drei tödliche Messerstiche in den Rücken

Zurück bleiben nach einigem Hin und Her: Die Leiche eines Jungen von 14 oder 15, vermutlich kurdischer Herkunft, mit drei tödlichen Messerstichen im Rücken; mehrere idealistische, jetzt völlig ratlose Pädagogen, zwei künstlerisch begabte Schülerinnen vom „Monster-Club“ und ihr Mitläufer Rolf, gegen den es einen vagen Verdacht aufgrund eines Haschischklümpchens gibt. Nach weiterem Hin und Her, Polizeiroutine genannt, wird die Akte geschlossen.

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Später erweisen sich der kleine Kurde wie sein schwarzafrikanischer Mörder (ebenfalls drei Messerstiche!) als Opfer einer Fehde im Drogengeschäft. Ende der Ermittlung. Aber doch nicht der Falls. Die Bildungssenatorin schließt das reformpädagogische Experiment und jagt die Lehrerschaft davon (beamtenrechtlich sehr problematisch, wie mir scheint).

Erinnerungen an den legendären Kommissar Maigret

Der notorisch schlechte Ruf der Berliner Bürokratie bleibt jedenfalls unangetastet. Und der Kriminaldirektor a. D.? Er hat den Fall keineswegs gelöst. Überhaupt wartet er lieber, bis die Fälle es selber tun. Das erinnert an den legendären Kommissar Maigret von Georges Simenon, in deren Nachfolge wir Manz und seinen Autor stellen dürfen.

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Dass sich die Problem von einst im Heute spiegeln, etwa die Frage von Freiheit und Regeln in der Erziehung, erfährt Manz im Disput mit Tochter Julia, einst zuständig fürs Pizzaholen, inzwischen Rechtsanwältin und Verteidigerin eines der Mädchen von „damals“ und strenge Mama der vom Opa verwöhnten kleinen Emma. Von denen werden wir wohl bald wieder hören – und dürfen uns darauf freuen.

Matthias Wittekindt: Die Schülerin. Ein alter Fall von Kriminaldirektor a.D. Manz Kampa Verlag, 363 S., 19,90 €

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1. Sybille Ruge: Davenport 160 x 90. Suhrkamp-Verlag, 264 Seiten, 15 Euro

2. Don Winslow: City on Fire. Aus dem Englischen von Conny Lösch. HarperCollins, 375 Seiten, 22 Euro

3. Jacob Ross: Die Knochenleser. Aus dem Englischen von Karin Diemerling, Suhrkampf Verlag, 376 Seiten, 15,95 Euro

4. S.A. Cosby: Die Rache der Väter. Aus dem Englischen von Jürgen Bürger, Verlag Ars vivendi, 344 Seiten, 24 Euro

5. Femi Kayode: Lightseekers. Aus dem Englischen von Andreas Jäger. Btb Verlag, 464 Seiten, 16 Euro

6. Tash Aw: Wir, die Überlebenden. Aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda, Luchterh., 416 Seiten, 24 Euro

7. Dror Mishani: Vertrauen. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Diogenes, 351 Seiten, 22 Euro

8. William Boyle: Brachland. Aus dem Englischen von Andrea Stumpf. Polar Verlag, 355 Seiten, 25 Euro

9. Val McDermid: 1979 - Jägerin und Gejagte. Aus dem Englischen von Kirsten Reimers. Knaur, 430 Seiten, 12,99 Euro

10. Mary Paulsen-Ellis: Die andere Mrs. Walker. Übersetzung von Kathrin Bielfeldt. Ariadne/Argum., 442 Seiten, 23 Euro

Diese Bestenliste wird im Auftrag von DeutschlandfunkKultur monatlich von 19 Kritikern und Kritikerinnen zusammengestellt, die jeweils vier Titel benennen können.