Essen. Lese-Tipp für Krimi-Fans: Matthias Wittekindt präsentiert mit „Die Brüder Fournier“ einen eigenwilligen und sehr lesenswerten Kriminalroman.
Neuerdings lassen manche Krimiautoren ihre Werke mit dem Untertitel „Roman“ erscheinen – sei es aus Drang nach vermeintlich „Höherem“, sei es auf Druck der Marketingabteilung, die neue Leserschichten erschließen will. Matthias Wittekind, von dem heute die Rede ist, tut genau das Gegenteil: Sein neues Buch nennt er einen „Kriminalroman“, obwohl schon der Titel „Die Brüder Fournier“ vermuten lässt, dass sich unter dem Krimi-Etikett etwas anderes verbergen könnte: ein Familien-, Erziehungs- oder Gesellschaftsroman, ganz wie es uns beliebt. Aber da die Prägnanz von literarischer Gattungsnamen seit längerer Zeit verschwommen oder gar verschwunden ist, soll uns das nicht weiter beschäftigen.
Kommen wir zur Sache: Erzählt wird die Geschichte einer hart arbeitenden Unternehmerfamilie aus dem kleinen Ort Envie nahe Brüssel (den wir freilich auf keiner Karte finden können); die Pralinen aus ihrer Konditorei werden in ganz Belgien verkauft und sogar nach England exportiert. Es geht um die Brüder Iason und Vincent Fournier, die in den 1960er und 70er Jahren aufwachsen. Iason wird von klein auf als Problemfall mit psychischen und sozialen Defekten behandelt, weiß weder mit seiner überschäumenden Kraft noch mit seinen emotionalen Verwirrungen umzugehen. Eine Art von Wohlstandsverwahrlosung macht ihn über kurz oder lang zum Dauerklienten der strafenden Instanzen: von prügelnden Lehrer über die Frau vom Jugendamt, die immer die falschen Maßnahmen trifft, geradewegs in Jugendpsychiatrie, Untersuchungshaft und Gefängnis. Ein Musterfall „abweichenden Verhaltens“ wie aus dem sozialpsychologischen Lehrbuch, aber auch ein Krimi?
Alkohol, Drogen, Sex und tote Kinder
Dann geht es, Ende der 60er Jahre, um die Verlockungen und Verwirrungen von Alkohol, Drogen und natürlich – Sex. Zurück bleiben zwei tote Kinder. Pauline, voller Whiskey und Hasch, ist im nächtlichen Schnee erfroren, der kleine Aaron hat sich wohl mit Mamas Tabletten vergiftet. Und hat Iason die attraktive Sophie auf der dunklen Landstraße wirklich gewaltsam bedrängt, wie sie behauptet? Das bleibt ungeklärt, auch in seinem besoffenen Kopf – und führt ihn geradewegs ins Gefängnis.
All dies beschreibt Wittekindt im besten Sinne realistisch, detailgenau und szenisch eindringlich. Und er stellt (mit seiner Berufserfahrung als Architekt und als Regisseur!) die Familiengeschichte in einen geografischen und zeithistorischen Rahmen: aus dem verschlafenen Dorf Envie wird mit Brüssels ‚Europäisierung´ ein schicker Prominentenvorort mit einem Luxusrestaurant, das natürlich der Familie Fournier gehört...
Geschichte nimmt eine fast märchenhafte Wendung
Nun dürfen wir aber nicht verschweigen, dass diese Geschichte auf den letzten vierzig Seiten eine fast märchenhafte Wendung nimmt, und der alte Sünder Iason erlebt, was man in alten Zeiten eine „Läuterung“ genannt hätte: Vom Sträfling zum Spitzenkoch (im eigenen Restaurant) und Familienpascha, der unübersehbar an den Don Corleone aus dem „Paten“ erinnert. Der Literaturkritiker in mir muss dies natürlich als inkonsequent, wenn nicht gar kitschig bemängeln, auch wenn es ihm als mitfühlendem Leser das Herz erwärmt.
Alles in allem also: ein unbedingt lesenswertes, weil eigenwilliges Buch, das an große Vorläufer erinnert, die vor mehr als hundert Jahren die Verwirrungen und Leiden junger Menschen beschrieben haben: Thomas Mann, Hermann Hesse, Frank Wedekind und andere. Auch die kann man übrigens immer noch lesen.