Essen. Es gibt tatsächlich einen Maigret-Fall, den deutsche Fans noch nicht kennen. Nun gibt es die „Nullnummer“ im Buchhandel.

Zu den Spielregeln der Krimi-Bestenliste gehört es, dass nur „deutsche Erstausgaben“ vorgestellt werden. Also meistens Bücher aus der laufenden Saison, bei Übersetzungen auch ältere, die wir erst jetzt auf Deutsch lesen können. Dass aber ein Buch 89 Jahre alt werden muss, bis es auf die Liste kommt, ist schon ein kleines Krimirätsel, zumal es von einem Giganten der Branche stammt. Die Lösung ist, wie es sich für Krimis gehört, überraschend, aber logisch.

Der junge Mann aus Lüttich, jetzt in Paris, hatte vor 1930, meist anonym, nur abenteuerliche Romanheftchen verfasst und mit verschiedenen Detektiven für Krimigeschichten experimentiert. Einen nannte er (nach seinem Nachbarn) Maigret, und der sollte dann in 75 Romanen und 33 Erzählungen aktiv und als literarische Figur unsterblich werden und seinen Erfinder Georges Simenon zum genialen Vielschreiber und natürlich auch ganz ordentlich reich machen.

Von den mehr als 150 weiteren Romanen ohne Kommissar Maigret, von vielen Leserinnen und Lesern noch höher eingeschätzt, den sogenannten „Krisenromanen“, wollen wir gar nicht reden

Einst war „Maigret und das Haus der Unruhe“ für eine Tageszeitung entstanden

Was nun aber das Überraschungsbuch angeht, so hat Simenon es 1930, kurz bevor der „erste echte“ Maigret-Roman unter seinem Namen in den Buchhandel kam, noch schnell an eine Tageszeitung verkauft, wo es unter Georges Sim abgedruckt wurde. Man kann „Maigret und das Haus der Unruhe“ also durchaus den „nullten Fall“ des Kommissars nennen.

Daniel Kampa ist mit dem gigantischen Gesamtwerk von Simenon aufs Beste vertraut, weil er es als Lektor im Diogenes-Verlag lange betreut hat. Jetzt will er es – teils in seinem Verlag, teils bei Hoffmann & Campe – neu herausbringen. Der Erwerb der Rechte, durch den Diogenes einen seiner wichtigsten Autoren verlor, war ein Coup, das Projekt ist dennoch ehren- und begrüßenswert – wenn auch nicht ohne Risiko.

Über das Buch, das in hübscher Aufmachung vor uns liegt, müssen wir gar nicht viel sagen: ein „echter Maigret“, der uns in eines der typischen Pariser Mietshäuser führt, wo eine Familie in krampfhaftem Versuch, die gutbürgerliche Fassade zu bewahren, sich selbst zugrunde richtet. Maigret ist zwar unter den Detektiven der größte Menschenversteher, ein „Flickschuster von Schicksalen“, aber auch er kann das Unheil allenfalls noch ein wenig mildern.

Für den Nobelpreis reichte es nicht, aber Georges Simenon hatte äußerst prominente Leser

Den Rang seines Schöpfers Simenon, der wie kein anderer auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Kolportage balancierte, haben Millionen Leserinnen und Leser in aller Welt längst gesichert. Sogar im Allerheiligsten des französischen Verlagswesens, der vornehmen Bibliothèque de la Pléiade hat man ihm zwei Bände für eine Auswahl seiner Romane eingeräumt. Für den Nobelpreis hat es nicht gereicht. Peu importe, „macht nix“, sagt der Franzose da wohl, wenn man ein halbes Dutzend Nobelpreisträger unter seinen unzähligen Bewunderern hat, von Hemingway bis Böll.

Georges Simenon: Maigret im Haus der Unruhe, Kampa Verlag, 224 S., 16,90 €