Ermittlungen gegen sich selbst: Ein Kriminaldirektor a. D. wird in Matthias Wittekinds Krimi „Vor Gericht“ mit der Vergangenheit konfrontiert.
Das kommt uns doch bekannt vor: Ein Einfamilienhaus, etwas heruntergekommen, am Rande der großen Stadt. Nur selten wird die wohlhabende ältere Dame von einem ihrer beiden Söhne besucht, sagt der aufmerksame Nachbar: wenn sie wieder Geld brauchen. Aber alle zwei Wochen muss einer sie in die Stadt chauffieren. Da ist sie elegant gekleidet, trägt echten Schmuck und bringt abends wechselnde junge Männer ins Haus, so „vom südlichen Typ“. Aber jetzt liegt sie tot im Schlafzimmer, mit deutlichen Würgemalen am Hals. – Erst nach einigen Tagen dringen Söhne und Nachbar ins verschlossene Haus und rufen die Polizei. Der erfahrene und allseits geschätzte Kommissar übernimmt.
Der ungelöste alte Fall wird durch eine neue DNA-Analyse nochmals brisant
Aber nein, der heißt nicht Maigret und wir sind nicht Paris. Sondern in Buckow bei Berlin. Hauptkommissar Manz wird den Fall aber nicht lange bearbeiten, er wird befördert und – wir sind in der Nachwendezeit – nach Dresden versetzt, zur Freude seiner Frau und ihrer Familie dort. Achtundzwanzig Jahre später: Kriminaldirektor a. D. Manz genießt mit den Kumpels vom Ruderclub den Ruhestand, seine Frau ist geschäftlich viel unterwegs, da ruft die Justiz ihn überraschend nach Berlin zurück.
Der ungelöste alte Fall wird durch die neue DNA-Analyse nochmals brisant, von Manz erhofft man sich weitere Aufschlüsse. Nur gut, dass er ausführliche Aufzeichnungen und ein gutes Gedächtnis hat. Aber sein Rückgriff in die Vergangenheit nimmt eine unerwartete Wendung: Er wird nicht gerade zum „Gerichtstag über sich selbst“, wie der Dramatiker Ibsen einst sagte, aber doch zu einer sehr kritischen Bilanz seines Lebens, beruflich wie privat. Der Sinn seiner Polizeiarbeit, die Unruhe im sogenanntem Ruhestand, die in Routinen festgefahrene Ehe, ein flüchtiges Verhältnis von ehedem, all dies drängt nach oben und mündet in eine Lebenskrise, die er – ganz dramatisch im Kajak auf der nächtlichen Elbe – nur knapp überlebt.
Matthias Wittekind ist ein Solitär unter den Kriminalautoren deutscher Sprache
Mit dem Wiederaufnahmeverfahren in Berlin beginnt dann ein kleiner Gerichtsroman (das ist seit mehr als hundert Jahren ja auch eine deutsche Tradition), der zu einem Urteil, aber nicht zu letzter Gewissheit führt. Nur der Kriminaldirektor a. D. ist danach von seiner unbewussten Last befreit und darf sich auf eine Art „zweiten Ruhestand“ freuen. Und das freut dann auch die Gattin.
Matthias Wittekind ist ein Solitär unter den Kriminalautoren deutscher Sprache. Kein Serienautor und relativ immun gegen den derzeitigen Thriller-Boom: ein ganz und gar unaufgeregter Erzähler. Im halben Dutzend seiner Romane hat er ganz verschiedene Krimihandlungen mit dem sorgfältigen und nuancierten Ausleuchten der sozialen und psychologischen Hintergründe verbunden – altmodisch gesagt: mit den Schicksalen der einfachen Leute. Man könnte Matthias Wittekind deshalb einer Tradition zurechnen, die von Friedrich Glauser und Friedrich Dürrenmatt, letztlich aber von deren Vorbild herkommt, dem großen Georges Simenon. Ihm kommt Wittekind mit seinen Romanen so nahe, wie es möglich ist ohne ihn zu kopieren. So ist es auch ganz passend, dass das neue Buch bei Kampa, in Simenons neuem deutschen Verlag erschienen ist.