Düsseldorf. Der Düsseldorfer Thomas Kessler arbeitet als Komponist, Produzent, Pianist und Klangforscher im Bereich intuitiv komponierter Musik. Was ist das?

Im Interview mit der Sonntagszeitung spricht der 53-jährige Düsseldorfer Komponist, Produzent, Pianist und Klangforscher Thomas Kessler über seine Arbeit in der Coronakrise, Spotify und seinen musikalischen Antrieb.

Herr Kessler, Sie nennen sich Komponist, Produzent und Klangforscher, wenn man Letzteres so übersetzen kann. Wäre Soundtüftler auch möglich oder wäre das eine Beleidigung?

Ein Soundtüftler ist für mich jemand, der mit großer Hingabe stundenlang an den Millionen Knöpfen seiner großen Synthesizer-Sammlung schraubt und zum Selbstzweck die Algorithmen bis ins letzte Atom auslotet. Das mache ich zwar zum Zeitvertreib hin und wieder auch ganz gerne, es interessiert mich aber doch nur am Rande. Deutlich faszinierender ist da für mich eine Qualität der Musik, die sie von den anderen Kunstformen unterscheidet: ohne Einsatz von Worten oder Bildern Emotionen transportieren zu können. Ich nähere mich also aus der entgegengesetzten Richtung und frage nicht ‚Was kann ich alles aus meinem Instrument herausholen?‘ sondern ‚Welche Mittel setze ich ein, um eine bestimmte Gefühlswelt in ihr passendes Klangbild zu kleiden?‘

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Womit kann man das vergleichen?

Dieser Prozess ist dann schon mit der Arbeit eines Bildhauers vergleichbar, der mit Intuition und geübtem inneren Auge vorab zu erkennen vermag, welche Art von Skulptur in einem Steinblock steckt. So komponiere ich aus Instrumentenklang und anderen Geräuschen, und deren Resonanz mit verschiedensten Formen natürlicher und künstlicher Raumakustik. Die Phase des Tüftelns muss zu diesem künstlerisch wichtigsten Zeitpunkt längst abgeschlossen sein und Platz gemacht haben für schnelle, selbstbewusste Entscheidungen.

Musizieren und Wettbewerb haben nicht viel miteinander zu tun

Sie waren schon in jungen Jahren mehrfach Preisträger beim Wettbewerb „Jugend jazzt“. Wie hat Sie das geprägt?

Es hat mich vor allem in meiner Überzeugung bestärkt, dass Musizieren und Wettbewerb nicht viel miteinander zu tun haben. Das ist ja schon sehr lange her, es muss etwa um 1980 herum gewesen sein. Mein Mentor, der Jazz-Pionier Ali Haurand, der damals in meiner Geburtsstadt Viersen hochklassige, international besetzte Jazzworkshops veranstaltete, hat uns mit sanftem Nachdruck zur Teilnahme am Landeswettbewerb motiviert. Ich habe dort als Solist und im Ensemble teilgenommen. Wir waren schwer beeindruckt vom hohen Niveau der Mitbewerber, die mit mühelos wirkender Virtuosität die einschlägigen Jazz-Standards perfekt auf die Bühne nagelten. Von diesem Umfeld stachen wir ab wie die Paradiesvögel von der Raufasertapete. Nach kurzem Zuhören waren wir überzeugt, dort nichts reißen zu können. Auch der Jury fiel es sicher nicht leicht, uns einzuordnen. Man hat uns wohl vor allem wegen unseres erkennbaren Strebens nach Individualität und Innovation ausgezeichnet, wofür ich der Jury aus heutiger Sicht noch immer sehr dankbar bin. Das Erlebnis „Jugend jazzt“ hat mich also vor allem in der Sichtweise gestärkt, dass neben den makellos asphaltierten Wegen des Mainstream reichlich Möglichkeiten existieren, sich einen eigenen Trampelpfad durch den Dschungel zu legen.

Was ist musikalisch Ihr wichtigstes Standbein?

Habe ich überhaupt ein Standbein? Da bin ich mir gar nicht so sicher. Meist fühle ich mich eher in einer Art Schwebezustand. Mich interessieren Leben und Menschen auf ganz vielfältige Weise. Dem gegenüber steht der musikalische Wortschatz, der mich auf meine Umgebung reagieren lässt. Seit etwa 25 Jahren arbeite ich fast ausnahmslos im Bereich der spontan komponierten Musik, solistisch und im Ensemble. „Spontan komponiert“ bedeutet, dass die Musik aus dem Augenblick heraus intuitiv entsteht. Zum Schöpfungsprozess gehört aber auch das gleichzeitige Erfinden klarer, nachvollziehbarer Strukturen in Echtzeit, was auch den wesentlichen Unterschied zur reinen Improvisation ausmacht. Diese Arbeitsweise setze ich in stilistisch vielfältigen Mitwirkungen um, die sich von Ambient, Jazz, Rock, Funk über Neoklassik bis hin zum Deep House erstrecken.

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Inwieweit wird man als Künstler in der Coronakrise einfallsreicher?

Meine wesentlichen künstlerischen Ausdrucksmittel sind zu meinem persönlichen Glück das Komponieren und die Musikproduktion, Live-Auftritte bilden seit jeher die Ausnahme. In all den Verunmöglichungen, Vereinzelungen und Verlangsamungen, die mit den Maßnahmen zur Coronabekämpfung einhergehen, sah ich von Beginn an auch meine Chance zur Fokussierung auf ein neues Projekt, das in jeder Hinsicht perfekt unsere neuen Lebensbedingungen spiegelt. Also arbeite ich nach fast zehnjähriger Pause seit Mitte des vergangenen Jahres wieder an Klavier-Solostücken. Zu all meinen Arbeiten entwerfe ich vorab stets eine Storyline, die das Anliegen des Projekts und seiner angestrebten Wirkung beschreibt, die Menschen und ihre Lebenssituationen, in denen ich sie mit meiner Musik ansprechen möchte.

Am 30. April erscheint ihr neues Piano-Soloalbum. Was erwartet den Hörer da?

Nun, es heißt ‚Piano Lullabies‘ und der Name ist Programm (lacht). Die Klaviermusik, an der ich gerade arbeite, haben wir schon angesprochen. Allmählich wurde es also Zeit, aus den bereits veröffentlichten und einigen weiteren Stücken ein Album zusammenzustellen. Dazu habe ich alle Titel während der letzten Wochen noch einmal klanglich überarbeitet. Meine ‚Wiegenlieder für Menschen jeden Alters‘ sind dem menschlichen Urbedürfnis nach Ruhe und Geborgenheit gewidmet, mit dem wir auf die Welt kommen, und das uns anschließend ein Leben lang begleitet.

Wunderbarer Verwendungszweck

Gerade für werdende Mütter sicher eine Möglichkeit, den Babys früh schöne Klänge zu schicken, oder?

Auf die Idee zu diesem wunderbaren Verwendungszweck brachte mich vor Jahren ein Freund. Seine Frau erwartete ein Baby, und ein Tablet mit meiner Klaviermusik auf dem Bauch gehörte zum allabendlichen Einschlafritual. Die bereits vertrauten Klänge bewiesen dank des Wiedererkennungseffekts auch später an der Wiege ihre beruhigende Wirkung. Kinderpsychologen empfehlen dazu ja meist eine der üblichen Spieluhren. Dass dieser Trick auch abseits der gängigen Klischees mit Klaviermusik funktioniert, haben eigene Versuche mit Nichten und Neffen bestätigt, mit den Babys von Freunden und den Freunden selbst.

„Le Son des Couleurs“ heißt ein weiteres Projekt von Ihnen. Was hat es damit auf sich?

Schon als Kind habe ich mich ständig mit Malerei, Zeichnen und Klavierspielen beschäftigt. So verschmolz der Umgang mit Form und Farbe einerseits, mit Klang und Klangfarbe andererseits von Beginn an zum organischen Ganzen. Dieses Motiv der multiplen Sinneswahrnehmung ist ein Grundbaustein all meiner Projekte. Mit „Le Son des Couleurs“ (dt.: Der Klang der Farben) habe ich es 2008 so umzusetzen versucht, dass ich zu einigen Nuancen der Farbsystematik „Les Claviers de Couleur“ des Schweizer Architekten Le Corbusier Klangkompositionen entwarf - streng unwissenschaftlich, versteht sich.

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Wie verliefen die Aufnahmen?

In meinem Studio entstand zunächst eine Auswahl von zehn ‚Ambient Soundscapes‘, die ich gerne „akustische Raumparfums“ nenne. Später kam der Saxophonist und Bassklarinettist Bernd Winterschladen hinzu, den ich aus der gemeinsamen Zeit bei Trance Groove kannte. Erst durch ihn wurde das Projekt bühnentauglich, weil er meinen abstrakten Klanglandschaften im wahrsten Sinne des Wortes den menschlichen Atem einhaucht. 2018 erschien unser gemeinsames Album „Le Son des Couleurs“. Aus den Fragmenten und Loops der ursprünglichen Studioaufnahmen erstellen wir in unseren Konzerten jedes Mal neue „Remixe“, die intuitiv auf Zeit, Ort und Publikum reagieren. Das macht jedes unserer Konzerte zu einem unwiederbringlichen Unikat.

Sie haben als Pianist ein Album „Piano Diaries“ veröffentlicht. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Das ganze Jahr 2011 hindurch habe ich eine Art musikalisches Tagebuch verfasst: Ab Januar begann ich, jeden Sonntagmorgen ein neues kleines Stück als Youtube-Clip zu posten, spontan gespielt auf dem kleinen Klavier, das mir meine Mutter Mitte der 1970er Jahre zum dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte. Vom Moment der Entstehung inspiriert, völlig roh, unbearbeitet und auf die einfachste Art und Weise aufgenommen – ehrlich gestanden, mit meinem Handy. Im selben Jahr feierte meine Mutter ihren 85. Geburtstag - ein perfekter Anlass, ihr dieses Projekt als Geschenk zu widmen. Später schlug mir mein Verlag vor, eine Auswahl der sonntäglichen Aufnahmen als Album zu veröffentlichen. Das muss man sich mal vorstellen: eine CD, mit dem Handy aufgenommen… (lacht)

Düsseldorfer Musikszene oder Kölner?

Sie waren Mitglied in der Kölner Underground-Band Goldman mit dem bekannten Kölner Musiker Stefan Krachten. Bei der Band Trance Groove sind Sie ja immer noch dabei. Wie wichtig war Krachten für Sie?

Mit Stefan kam ich Ende der Neunziger Jahre erstmals in Kontakt, noch während meiner Zeit bei der Berliner Worldmusic-Formation Dissidenten. Er lud mich zu einigen Sessions nach Köln ein, so lernte ich die Szene um das Kunsthaus Rhenania kennen, später kam ich dann zu Trance Groove und Stefans Folgeprojekt Goldman. Stefan verfolgte nicht nur ein sehr klares künstlerisches Konzept, er war auch der unermüdliche Motor und Organisator hinter vielen Projekten, mit zahlreichen persönlichen Kontakten rund um Köln, aber auch international – unter anderem durch seine Verbindung zu CAN, Nico und der Londoner Musikszene. In jedem einzelnen seiner Trommelschläge steckte ein beeindruckendes Maß an Kraft, Selbstverständnis, Bedeutung und Entschlossenheit, wie ich es so mit keinem anderen Kollegen je erlebt habe. Sein Spiel und seine Inspiration bestärkten mich in meiner Begeisterung für die Kraft, die aus der Reduktion auf das Wesentliche entsteht.

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Klingt sehr spannend...

Oh ja. Bei jedem Auftritt aufs Neue musikalische Unikate aus dem Nichts zu erschaffen - das war unser gemeinsam gelebter Traum. Als Produzent liebte er den Zauber des ersten Takes, zog einen ungeschliffenen Diamanten dem Hochglanzpolierten vor. Da ergänzten wir uns gut, da ich anfangs exakt von der entgegen gesetzten Seite kam. So habe ich viel von ihm lernen und mir ein gutes Stück meines Perfektionismus abgewöhnen können. Zwischen 2009 und 2014 haben Stefan und ich ein Trance Groove- und drei Goldman-Alben als Team co-produziert. Zuletzt hat er mir seinen gesamten Festplatten-Bestand mit unvollendetem Material anvertraut. Daraus habe ich schließlich 2015 posthum noch das Vinylalbum „Goldman Live at the Blue Shell“ fertig gestellt. 2019 konnte ich zu meiner großen Freude die (bis auf Stefan) vollständige Trance-Groove-Originalbesetzung für einige Konzerte zusammentrommeln. Ich hoffe sehr, dass sich dazu in Zukunft noch weitere Möglichkeiten ergeben werden.

Die Düsseldorfer Musikszene war nie so bekannt wie die Kölner. Würden Sie dem zustimmen?

(lacht) Da muss ich doch heftig widersprechen, wenn ich mich auch in den lokalen Musikszenen nicht wirklich gut auskenne. Aktuell habe ich leider nur spärliche Kontakte hier in Düsseldorf und daher keinen Überblick über das derzeitige Kreativgeschehen in der Stadt. Aber Acts wie NEU! und Kraftwerk waren/sind auf jeden Fall Düsseldorfer Formationen von absoluter Weltgeltung, die ganze Musikepochen geprägt und Scharen von Megastars inspiriert haben. In diesem Format fällt mir in Köln nur die legendäre Band CAN ein.

Das Album ‚Piano Lullabies‘ kann man unter lullabies.thomaskessler.com bestellen.

Das Interview stammt aus der digitalen Sonntagsausgabe, dem E-Paper Ihrer Zeitung – jetzt gratis und unverbindlich testlesen. Hier geht’s zum Angebot: GENAU MEIN SONNTAG