Essen. Wertvoll und trügerisch: Wenn wir uns an die ersten Lebensjahren erinnern, spielt uns das Gehirn oft einen Streich. Aber das ist nicht schlimm.
Es war ein goldener Herbstnachmittag, ich war erst draußen spielen und saß dann im Haus von Oma und Opa am Küchentisch, meine Uroma war auch dabei, gleich sollte es Abendessen geben, Spinat mit Kartoffeln. Die Emaille-Töpfe standen schon auf dem Herd und dampften. Wie jeden Nachmittag öffnete sich die Tür, die von der Küche in den hinteren Teil des Hauses und den Hof führte – und herein kam mein Opa, wie immer mit Hut, den er lüftete, und grauem Mantel. Als er mich am Tisch erblickte, begrüßte er mich strahlend, wie er es immer tat: „Hallo Dicken!“, sagte er. Und ich erwiderte mit riesiger Freude: „Hallo Doofen!“ Und musste lachen... Zwei wie „Dick & Doof“, das war unser Ding – und natürlich schauten wir auch auf dem Fernseher gemeinsam „Dick & Doof“.
Was für eine schöne Erinnerung!
Aber ob das alles so stimmt? Wenn ich lese, was man heute über das Erinnerungsvermögen von Kindern weiß, nämlich dass man sich bewusst an nichts aus den ersten drei Jahren seines Lebens erinnern kann, und dann ein bisschen nachrechne, dann können einem schnell Zweifel kommen: Der schöne Opa-Nachmittag kann sich zumindest so und mit all den Details, an die ich mich zu erinnern glaube, nicht ereignet haben.
Mein Opa starb, als ich noch keine drei Jahre alt war – im Sommer. Wenn es also Herbst gewesen sein sollte, war ich gerade mal zwei. Und ob ich damals schon in der Lage war, ein Witzchen auf Kosten des Opas zu reißen? Na ja, zuzutrauen wäre es mir zumindest.
Was Kinder in jüngsten Jahren erinnern, bleibt ein halbes Jahr
Ganz ohne Gedächtnis sind die kleinen Kinder natürlich nicht, stellt der Neurobiologe Martin Korte (56) von der Uni Braunschweig fest: „Wenn man mit Drei- oder Vierjährigen spricht, dann können die sich sehr wohl erinnern, dass sie schon mal beim Opa ein Eis gegessen oder der Oma einen Ohrring aus dem Ohr gezogen haben. Was Kinder in diesem Alter erinnern, ist im Hippocampus gespeichert. Aber der Hippocampus hat in dem Alter noch eine ganz schlechte neuronale Anbindung an die Großhirnrinde, in der die längerfristigen Erinnerungen abgelegt werden. Die Nervenfasern, die beide miteinander verbinden, sind noch nicht initiiert.“ Erinnerungen aus dem Hippocampus bleiben nur ein halbes Jahr erhalten.
Die Wissenschaft geht heute davon aus, dass drei Faktoren zusammenkommen müssen, damit man sich konkret an autobiografische Ereignisse erinnern kann. Da wäre als erstes die Sprache, mit deren Hilfe wir erst unser autobiografisches Gedächtnis aktivieren können. Dann muss – wie gerade erläutert – die Hirnreifung hinzukommen, weshalb man erst ab drei Jahren in der Lage ist, komplexere persönliche Dinge langfristig abzuspeichern. Schließlich muss beim Kind ein Ich-Bewusstsein entstanden sein, also das Erkennen, dass es ein eigenständiges Leben führt…
Man kann sogar falsche Erinnerungen einpflanzen
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Der Kognitionsforscher Martin Conway von der University of London hat herausgefunden, dass viele unserer frühesten Kindheitserinnerungen zum Teil, manchmal sogar komplett fiktional sind. „Wir erinnern uns an Fotos, Familienvideos oder erzählte Geschichten aus dem Familienkreis“, schreibt er. Diese verbinden wir mit unseren bruchstückhaften Bildern – und verknüpfen sie so zu einer Geschichte, die wir als Erinnerung ansehen.
„Wir erinnern oft Randbedingungen eines Ereignisses und rekonstruieren daraus Erinnerungen, manchmal anhand von Dingen, die wir erst später erlebt haben“, sagt Martin Korte. Wie bei einem kompletten Skelett, das man aus nur wenigen Knochen rekonstruiert. Bei jedem Erinnern spielen dabei auch die aktuellen Umstände eine Rolle, unter denen wir die Erinnerungen abrufen. Und schon dadurch verändern sich unsere alten Erinnerungen.
Der Rechtspsychologin Julia Shaw ist es in einem Experiment in London sogar gelungen, sieben von zehn Studierenden falsche Erinnerungen einzupflanzen, so dass sie sich an Dinge erinnerten, die sie tatsächlich gar nicht erlebt haben.
Wo Sigmund Freud ein wenig daneben lag
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Wer weiß also, ob die Kindheitsanekdote, die im Familienkreis immer wieder erzählt worden ist, sich tatsächlich so ereignet hat. Zuverlässig erinnern können wir uns erst an Dinge, die sich ab einem Alter von sechs Jahren zugetragen haben.
Wissenschaftler sprechen bezogen auf die ersten Lebenjahre von kindlicher Amnesie. Sie spielte für Sigmund Freud eine große Rolle. Er war der Meinung, dass die Erfahrungen aus der frühesten Kindheit zwar gespeichert würden, sie aber der Verdrängung zum Opfer fallen – und unser Hirn uns später den Zugriff schlicht verweigert. Und das, obwohl sie unsere Persönlichkeit beeinflussen.
Wenn man mit Elke Küch (78), einer Rentnerin aus Essen spricht, berichtet sie davon, wie sie kurz nach dem Krieg, also im Alter zwischen zwei und vier Jahren, bei der Großmutter, in einem Dorf in der Nähe von Hamburg aufwuchs – und dann 1946 nach Gelsenkirchen kam. Sie erinnert sich an einen schönen Teich, an dem sie dort als Kinder immer gespielt haben – und in den sie nicht gehen sollten, weil darin eine Bombe liegen sollte. Wie sich Jahre später herausstellen sollte, wohl zu Recht. „Es war eine schöne Kindheit“, sagt sie heute, „viel Platz zum Spielen auf den Straßen“. Diese Einschätzung überdeckt ein wenig, dass es in der Nachkriegszeit sicher viele Entbehrungen gab. Vieles hängt im Leben also auch davon ab, wie wir unsere Erinnerungen bewerten.
„Die Menschen haben keine objektiven Eins-zu-Eins-Erinnerungen“
Was nicht heißt, dass die Erinnerungen falsch oder trügerisch sein müssen. Das ist auch eine wichtige Erkenntnis für die Psychotherapie: „Die Menschen haben keine objektiven Eins-zu-Eins-Erinnerungen. Das Abgespeicherte wird mit jedem Neu-Erinnern immer ein bisschen angepasst. Man versteht das in der Therapie als Narrativ eines Lebens, ein Auszug aus einer Lebensgeschichte. Aber der Therapeut muss fein aufpassen, nicht zu denken, das wäre alles wirklich so gewesen“, sagt der systemische Familientherapeut Reinert Hanswille (68) aus Essen.
Wenn unser Gedächtnis einem Narrativ folgt, das immer wieder angepasst wird, bedeutet das auch, dass man es zum Positiven nutzen kann. Etwa, indem man an Orte der Geborgenheit zurückkehrt. „Ich habe gerade mit einem Mann in den Fünfzigern gesprochen, der in seiner Jugend zu Hause nur wenig Bestätigung bekommen hat, aber in seinem Fußballverein dafür umso mehr positives Feedback bekommen hat. Dem habe ich geraten: Geh einfach da hin, zum Vereinsheim oder auf den Fußballplatz, und versuch noch einmal, das zu spüren“, so Hanswille.
Erinnerungen, besonders die aus unserer frühen Kindheit, sind also keine Fakten, sondern sie sind etwas, das sich stets verändert – und mit dem wir aktiv arbeiten können.
Insofern wird mein Opa in meiner Erinnerung immer wieder zur Küchentür hereinkommen, seinen Hut lüften und mit mir seinen kleinen Scherz machen. Und immer, wenn irgendwo ein Film von „Dick & Doof“ läuft, werde ich mit einem glücklichen Lächeln an ihn denken.
Was für eine schöne Erinnerung.