Essen. Seine Erfolgsgeschichte war dem Tatort nicht in die Wiege gelegt. Heute ist er ein Fels in der Krimi-Brandung. Unsere Themenwoche startet.

Inzwischen darf man sogar wieder echte Fans am Sonntagabend gegen Neun anrufen, ohne die Freundschaft zu riskieren. Manche lesen sogar ein gutes Buch! Ist das nun ein Indiz? Sollte der „Tatort“, das „letzte Flaggschiff der ARD-Unterhaltung“, vom Untergang im Ozean der Beliebigkeit bedroht sein? Umringt von einer ganzen Flotte anderer Krimiserien, die tückischer Weise sogar sein Erfolgsrezept, eben den TatORT, kopieren – von den Rosenheim-Cops bis zum Usedom-Krimi?

Allerdings wurde sein Schiffbruch schon öfters prophezeit, erstmals 1974 – vier Jährchen nach der Premiere am 29. November 1970. Inzwischen segelt er aber wieder ganz flott und feiert punktgenau am kommenden Sonntag den 50. Geburtstag. Über 1100 verschiedene Folgen wurden gesendet, die genaue Zahl ist zwischen den Experten umstritten.

Der „Tatort“ wird 50. Anfangs hätte niemand die lange Lebensdauer erwartet

Aber wie gratuliert man einem Konstrukt zum runden Geburtstag? Denn das ist „der“ Tatort, als Ganzes betrachtet: eine Konstruktion, geboren aus Konkurrenzangst vor dem Aufsteiger ZDF, der Anfang 1970 schon den „Kommissar“ in Gestalt von Erik Ode losgeschickt hatte, und vor den Amerikanern, die damals mit Macht auf den westdeutschen Markt drängten.

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Wir gratulieren, indem wir uns erinnern, und zwar mit Hilfe bewährter Fußballweisheiten. „Der Tatort dauert 90 Minuten.“ Aber nur sonntags von 20.15 bis 21:45. Alles andere, auch die zahllosen Wiederholungen, ist für den Tatortjunkie Fake! Unantastbar, weil so wohltuend unzeitgemäß, bleibt der Vorspann, Klaus Doldingers Weckruf, der sogar den Opa vom Geschirrspülen herbeilockt. Und „Udo“ soll ja am Schlagzeug gesessen haben!

Das clevere „Tatort“-Konzept von Gunter Witte lässt Raum vom Thriller bis zur Komödie

Jetzt aber mal sachlich: Titel, Sendeplatz, Vor- und Abspann, wohlweislich nie angetastet, und das Prinzip der abwechselnden Produktion und Präsentation je eigener Serien durch alle Sendeanstalten der ARD (zur Zeit sind das zehn) garantieren das einmalige Profil der Marke Tatort bis heute. Damit ist ein Rahmen gegeben, etwa vergleichbar mit dem Spielplan der Bundesliga. Jetzt muss nur noch gespielt werden. Ein Schema bewährt sich erst in den Variationen, das wusste schon der Krimifan Brecht, und das „Runde muss ins Eckige“.

Das Tatortkonzept, die Notlösung im Konkurrenzkampf, beim WDR in Köln ersonnen von Gunther Witte (1935-2018), ehemals Dramaturg in der DDR, ist einfach genial, weil es Raum lässt für ganz verschiedene Krimivariationen, vom Familiendrama bis zum Thriller, von der Dorfgeschichte bis zur Komödie, aber auch für den kreativen „Eigensinn“ der verschiedenen Sender, der Produzenten, Regisseure und Schauspieler.

Kressin, Schimanski & Co: Vom Biedermann bis zum Haudegen

Gesichert, auch finanziell, ist das Schema durch die föderale Struktur der ARD, aber erst die Variationen machen Tatort zu einer „beweglichen Erzählung“ (so sagen die Forscher) und sicher auch konzeptionell seine Fortdauer und Kraft zur Selbsterneuerung. So hat sich bisher schon Stück für Stück eine Art Landkarte und eine Chronik der alten wie der neuen Bundesrepublik ergeben: Der Tatort – ein Erfolgsmodell aus Verlegenheit, wie dieser Staat selber. Selbstverständlich hat er sich mit der Zeit verändert – „nach dem Tatort ist vor dem Tatort!“ – und gerade wir Älteren sagen: Wir auch mit ihm. Haben wir damals tatsächlich diese unmöglichen Hosen getragen?

Im Rückblick ist jedenfalls eine grobe Gliederung nach Jahrzehnten üblich geworden. Es begann nach 1970 mit ein paar misslungenen oder missliebigen Experimenten. Zollfahnder Kressin, der kölsche Bond-Verschnitt, mit orangem Pyjama und zwei Damen im Bett, wurde schnell entlassen – aber wir erinnern uns gern an ihn.

Lena Odenthal und die anderen Ermittlerinnen

Dann hat sich ein bieder-realistisches „Normalmodell“ durchgesetzt, das noch dem Gesellschaftsbild der 60er entsprach. Im Gedächtnis geblieben ist Kommissar Haferkamp, der im Trenchcoat über das alte Zechengelände im Essener Norden stapft, aber doch lieber im Süden der Stadt den fatalen Sünden der Bourgeoisie nachspürt (in den besten Moment ein Hauch von nouvelle vague in Essen-Stadtwald).

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In die wachsende Langeweile bricht 1981 Anfang eine Naturgewalt ein namens Schimanski, mit der ganzen Ausrüstung des Action-Films in der ollen Sporttasche. Begeisterung und Empörung des Publikums halten sich die Waage – aber die führenden Tatort-Forscher (Hißnauer, Scherer & Stockinger: Föderalismus in Serie, 2016) sprechen ernsthaft vom Schimanski-Jahrzehnt ! Uns einfachen Tatort-Guckern bleibt mindestens sein Abschiedsflug übers Revier und sein lautes Lebewohl in Erinnerung. Nur die Duisburger haben die einmalige Chance verpasst, ihrer Universität einen ausdrucksstarken Namen zu geben!

Auch bei jungen Zuschauern genießt der „Tatort“ heute Kultstatus

Nach 1989/90 erlebt der Tatort trotz einer wahren Krimi-Explosion auf anderen Kanälen, eine „zweite Konjunktur“: Neue Sendeanstalten, besonders im Nordosten, neue Serien, andere Tatorte, neue Themen, meist vom sozialen Problemdruck diktiert: natürlich die Mühen der deutschen Vereinigung, Migrationsgeschichten, ganz zuletzt Kindesmissbrauch. Vor allem aber: Jetzt erstarken, in Nachfolge der unverwüstlichen Lena Odenthal (seit 1989), die Ermittlerinnen, zuerst allein oder im Mixed, bald auch im Damendoppel, und beanspruchen heute schon den Center Court.

Nach der Jahrtausendwende wird Tatort plötzlich wieder „Kult“, besonders bei jungen Leuten: Public Viewing sonntagabends im Hörsaal mit anschließender Sofortkritik! Und das betrifft nicht nur, wie man vermuten könnte, die zwischen geistreicher Ironie und deftigen Klamauk changierende Tatort-Comedys, die nun in Münster spielen oder auch – man denke! – in Weimar! „Der“ Tatort ist also in jeder Hinsicht immer vielfältiger geworden, ein ganzes Bündel von Tatörtern sozusagen.

Segnungen und Fluch der Mediathek

Da man aber ohnehin nicht alles sehen, geschweige denn gut finden kann, erweitert sich andererseits auch die Freiheit des Publikums – beim Auswählen aber auch beim Abschalten – „nicht schon wieder ein gequältes Kind!, nicht noch ein Ermittler mit Seelenknacks!“ Andererseits kenne ich Leute in Amerika (zugegeben: mit deutschem Migrationshintergrund), die am Sonntagabend um Acht (ihrer Ortszeit) Cola, Bier und „Pretzels“ bereitstellen und in der ARD-Mediathek die Folge vom letzten Sonntag aufrufen. Tatortzeit bleibt trotz allem Tatortzeit!

Prof. em. Dr. Jochen Vogt ist Autor für den „Krimi des Monats“ in dieser Zeitung; zuletzt erschienen von ihm „13 Versuche zum Kriminalroman“ unter dem Titel „Schema und Variation“ (Wehrhahn Verlag, 376 S., 29,50 €).

In den kommenden Tagen bis 29.11. werden weitere Taort-Betrachtungen folgen - zum Beispiel über die Tatorte in der Region, die größten Skandale und die interesantesten Mitwirkenden