Bruce Springsteen hat noch einmal mit der E Street Band zusammengehockt, und was rausgekommen ist, das rockt: „Letter To You“.
Die Anfangsszene in dem von Thom Zimny inszenierten Schwarz-Weiß-Film, der die Aufnahmen zu „Letter To You“ dokumentiert, ist rührender als jedes Katzenvideo. Wir sehen, wie der Boss zu den Mitgliedern seiner E Street Band über die neuen Stücke spricht – und was machen diese gestandenen Musiker wie Steven van Zandt, Nils Lofgren oder Max Weinberg? Sie machen sich emsig Notizen, wie Schüler, als ging’s um Fleißkärtchen. „Wir sind alle alt“, sagt Bruce Springsteen, selbst Ende September 71 geworden, zu der Szene. „Leute wie wir benutzen noch Bleistift und Notizblock.“
Aber nun, die Seuche macht’s möglich, machen Leute wie Bruce Springsteen auch Videokonferenzen mit. Zoom-Gruppeninterview mit europäischen Journalisten, und man stellt fest: Gut sieht er aus! Das stressarme Corona-Leben auf seinem Anwesen in Colts Neck/New Jersey bekommt ihm, scheint’s, nicht schlecht. Springsteen sitzt in grauem Wollpulli und mit gesunder Gesichtsbräune vorm Bildschirm, schließt beim Sprechen manchmal die Augen und spricht mit hypnotisch-rauer Wohlfühlstimme über „Letter To You“, sein neues, rundum überzeugendes und sehr intensiv nach Springsteen klingendes Album. Nach der Autobiografie „Born To Run“, seiner über ein Jahr laufenden Broadway-Solo-Show und dem Orchesteralbum „Western Stars“ lässt er es, gemeinsam mit der E Street Band, endlich wieder hymnisch krachen. Innerhalb von fünf Tagen nahmen die Herren (und zwei Damen, darunter Gattin Patti Scialfa) die zwölf Songs im November 2019 auf, praktisch alles spielt live und gemeinsam eingespielt.
Clarence Clemons wird durch seinen Neffen Jake ersetzt
Für den verstorbenen Saxofonisten Clarence Clemons spielt jetzt dessen Neffe Jake, auch Organist Danny Federici zählt längst zu den Verblichenen, auf die die Musiker am Anfang jeder Aufnahmesession einen Tequila tranken. Man sieht im Film, wie es draußen schneit und drinnen die kreativen Funken fliegen. „Ich spürte schon länger wieder Lust, rauszugehen und live zu spielen“, so Springsteen, „aber ich hatte seit sechs oder sieben Jahren keine Rocksongs für die Band mehr geschrieben. Was mir fehlte, war die Inspiration.“
Als vor zwei Jahren sein langjähriger Freund George Theiss, mit dem Springsteen in den späten Sechzigern in seiner ersten Band The Castiles spielte, an Krebs starb, musste er nicht länger suchen. Er schrieb, kurz nach seinem Besuch am Sterbebett, „Last Man Standing“ und bald darauf – in einem zehntägigen Kreativausbruch und auf einer Gitarre, die ihm „ein junger italienischer Bursche“ nach einer seiner Broadway-Shows auf der Straße schenkte – das ganze Album! „Zum ersten Mal ist mein Thema die Musik als solche. Das Gefühl, in einer Band zu sein. Der Rock’n’Roll.“
Stars wie Steve van Zandt oder Nils Lofgren machen sich Notizen
Nach der Einstiegsballade „One Minute You’re Here“ nimmt das Album ordentlich Fahrt auf, die neuen Songs überzeugen mit Esprit und Spielfreude. Bei aller Routine gibt es auf „Letter To You“ auch packende Momente, allen voran „House Of A Thousand Guitars“, das musikalische wie emotionale Herzstück. „Der Song führt tief hinein in die Welt, die ich mit meinen Fans erschaffen habe, es geht um das ganze Wertesystem und die Gedanken, die wir miteinander teilen.“ Welche Werte? „Ich bin zum Beispiel der Überzeugung, dass Musik einen Menschen reparieren kann. Sie hilft dir, dein Gemüt zu heilen. Ich denke, ich bin ein spiritueller Songwriter. Ich spreche deine Füße an, dein Herz, und ganz besonders spreche ich zu deiner Seele.“
Ähnlich wie schon „Western Stars“ ist auch das neue Album eine Betrachtung der ganz großen Fragen: Leben, Tod, Alter, realisierte Träume, zerbrochene Träume. Es geht um Menschen, die durchs Leben navigieren, ihren Platz immer wieder neu suchen und dennoch ganz bei sich sind. Mit der aktuellen Politik befasst sich Springsteen indes nur ganz am Rande, indem er in „Thousand Guitars“ einen „kriminellen Clown“ erwähnt oder in „Rainmaker“ auf die Diskrepanz zwischen dem guten, alten American Dream und der oft bitteren Realität zu sprechen kommt.
„Sobald wir wieder rauskommen, werden wir auf der Bühne explodieren“
Und? Kommt eine Tour? „Verdammt, und ob ich wieder touren will! Ich fühle mich lebendiger als je zuvor. Die Band ist in Topform, wir alle sind auf dem absoluten Höhepunkt unseres Schaffens. Sobald wir wieder rauskommen, werden wir auf der Bühne explodieren.“