Neugierig auf die Songs in ihm: 14 Monate trat der „Boss“ im kleinen Rahmen auf. Jetzt erscheint der Live-Mitschnitt „Springsteen On Broadway“.

Am Ende dieser zweieinhalb ergreifenden, poetischen, traurigen und berührenden Stunden kennt man jede noch so kleine Furche im glattrasierten Gesicht des für seine 69 Jahre umwerfend vital wirkenden Prototyp-Rockstars aus Freehold in New Jersey. Auch wer „Springsteen on Broadway“ lieber lauscht statt anschaut, kommt dem Boss so nah wie nie zuvor. Kaum ein Räuspern, kaum ein Schlucken bleibt ungehört, wenn er mit leicht heiserer, sehr angenehmer, von fern an eine Führungskraft der Mafia erinnernder Stimme seine Erzählmonologe hält. Und wenn er dann ein Lied anstimmt, ganz allein oben auf der minimalistischen Bühne, dann ist das ein Gefühl, als singe er für jeden Zuhörer einzeln.

Die Idee, ins Theater zu gehen, kam Springsteen, nachdem er im Weißen Haus eine Abschiedsshow für die Mitarbeiter von Barack und Michelle Obama gegeben hatte. Mit den beiden ist er gut befreundet. Kurz zuvor war seine Autobiographie „Born to Run“ erschienen, auch hatte er 2016 die mit einem Umsatz von 268 Millionen US-Dollar weltweit erfolgreichste Tournee des Jahres gespielt. Dann nutzte er die Gelegenheit, ein Jahr lang nicht reisen, sondern lediglich pendeln zu müssen – im Oktober 2017 feierte „Springsteen on Broadway“ Premiere im 939 Menschen fassenden „Walter Kerr Theatre“. Ursprünglich sollte die Show bis Februar laufen, Springsteen verlängerte jedoch diverse Male. Wenn heute um kurz vor 23 Uhr die finale Aufführung beendet ist, wird er das Stück 236 Mal gespielt haben. Selbstredend waren alle Auftritte blitzschnell ausverkauft, der reguläre Durchschnittspreis lag bei 500 Dollar, insgesamt hat Springsteen am Broadway 113 Millionen umgesetzt – mit einer Ein-Mann-Show. Lediglich für zwei Songs („Tougher Than The Rest“, „Brilliant Disguise“) kommt Patti Scialfa auf die Bühne und singt vollendet harmonisch mit ihrem Gatten im Duett.

Chronologisch geht er vor, den anfangs nötigen Teleprompter brauchte er im Sommer längst nicht mehr, er erzählt (teilweise wörtlich aus der Autobiographie) von seiner Kindheit. Zum Weinen und Lachen schön die Passage, wie er als Siebenjähriger seinen trinkfreudigen, irisch-stämmigen, zur Depression neigenden Vater auf Befehl der – lebenslustigen, lebensklugen – Mutter Adele aus der Kneipe zieht. Tränenfeucht wird es, als er den Besuch des 1998 gestorbenen Doug Springsteen („kein Mann der vielen Worte“) bei seinem Sohn schildert, kurz bevor der zum ersten Mal Vater wird. „Er wollte sichergehen, dass ich nicht dieselben Fehler mache wie er.“

Bei aller Ernsthaftigkeit, etwa wenn Springsteen über Vietnam spricht, bevor er sein radikal verändertes Protestlied „Born In The U.S.A.“ singt, das wohl am meisten missverstandene Stück der Rockgeschichte, kommt auch der schelmische Bruce nicht zu kurz: „Meine Heimat New Jersey ist eine Todesfalle, ein Ort, um sich umzubringen…und doch lebe ich heute zehn Minuten entfernt von meinem Geburtsort. Wer hätte sich so einen Scheiß vorstellen können?“

Dass er Lieder übers Autofahren schrieb, ohne den Führerschein zu haben, oder Lieder über das Leben in Fabriken, „obwohl ich selbst nie den Fuß in eine gesetzt habe“, lässt ihn zu der Erkenntnis kommen, sich mit kleinen Tricksereien durchs Leben geschlichen zu haben – nicht ganz ohne Erfolg. Auch den Scherz, dass er 2018 zum ersten Mal in seinem Leben einer geregelten Arbeit in einer Fünf-Tage-Woche nachgeht, nimmt er gerne mit. Am Ende des fast gottesdienstähnlich anmutenden Lesungskonzerts jedenfalls ist man nicht nur bestens im Bilde über die grauen Härchen in Springsteens Brauen, sondern auch über all die Unebenheiten seines Menschenlebens. Und es ist auch die Biografie seines Landes. „The Rising“ oder „Land of Hope and Dreams“ (das letzte Stück vor der Zugabe „Born to Run“) sind politische Lieder: „Es gibt in diesem Land Leute, die den Hass normalisieren“, prangert er an. „Ich hoffe, wir gehen gerade lediglich durch ein schreckliches Kapitel in der Schlacht um die Seele unserer Nation.“ Er selbst will aber nicht für die Demokratische Partei ins Rennen gehen, auch wenn er ähnliche Wählerschichten anspricht wie Donald Trump.

Und ein Ende der Karriere? Sieht er nicht. Die Springsteens werden alt und sind zäh: „Ich bin selbst neugierig“, sagt er, „welche Songs noch in mir stecken.“