Freehold. . Im proletarisch angehauchten Gartenstaat New Jersey hat Bruce Springsteen seine Wurzeln. Eine Reise zu den Schauplätzen seiner Autobiografie.
Wenn Mike Tobias oben links auf das kleine Fenster des blassbläulichen Hutzelhäuschens in der Institute Street Nr. 39 einhalb zeigt, werden in Freehold die ersten 100 Seiten des gerade erschienenen und sieben Mal so langen literarischen „Born To Run“- Marathons von Bruce Springsteen zum Kopfkino.
Voller Respekt, Demut und Detailtreue beschreibt der unkaputtbarste Akkordarbeiter im amerikanischen Rockgeschäft darin in 79 Etappen seine Wurzeln. Die sind bis heute überall im 12 000-Einwohner-Städtchen, das in den Herzkranzgefäßen von New York liegt, offen zu besichtigen. Wir sind in New Jersey. Jener US-Bundesstaat, über den Richard Fords Serienheld Frank Bascombe einmal gesagt hat: „Besser in New Jersey zur Welt kommen als gar nicht.“
Die „St. Rose of Lima-Schule“, auf der gestrenge Nonnen den schmächtigen Knaben irisch-italienischer Abstammung katholisch erzogen haben, ist einen Steinwurf entfernt. Auch das windschiefe Haus an der South Street (Nr. 68) steht noch. Hier lebte Springsteen für kurze Zeit, nachdem die Eltern Ende der 60er-Jahre nach Kalifornien gezogen waren.
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Eine vielköpfige Einwanderer-Familie aus Mexiko – 50 Prozent der Einwohner von Freehold sind Latinos – zahlt heute hier die Miete. Springsteen sagt ihnen nada. „Bruce? Nie gehört, Senor.“ Schließlich „Federici’s“ an der Hauptstraße. Seit 95 Jahren die erste Adresse für Pizza. Und seit Kinderzeiten Springsteens Lieblingslokal für Pasta a la Mamma. Vor zwei Jahren war er zuletzt da. „Er ist ja dauernd auf Tournee“, nimmt Maggie, die üppige Kellnerin, ihn in Schutz. An der Wand hängen Fotos. Der „Boss“ mit den Köchen. Er sieht satt und glücklich aus. „Wenn er kommt“, sagt Maggie, „dann immer bescheiden. Ganz normal.“
Springsteen ist normal und bescheiden gebleiben
Normal und bescheiden. Das sind die Vokabeln, die auch Mike Tobias als erstes einfallen, wenn er über die „absolut coole Type“ spricht, die in seiner Wohnung ihr Erweckungserlebnis gehabt haben muss. „Es war Elvis Presley in der Fernsehshow von Ed Sullivan“, berichtet der pensionierte Stadtangestellte über seinen berühmten Vormieter. Springsteen zog 1955 mit Papa Doug und Mutter Adele ein, weil an der Randolph Street gegenüber die Miete zu hoch wurde. Nach Elvis bestand Klein-Bruce, noch keine sieben, darauf, seine erste Klampfe zu bekommen. „Nachbarn sagen, dass es furchtbar klang“, nölt Tobias im ruppigen Jersey-Slang. Dann prustet er los vor Lachen. „War nur Spaß. Der Boss kann das ab.“
Darum mögen die Freeholder ihn. Und Hunderttausende andere zwischen Long Branch, 1949 sein Geburtsort ganz im Norden des Jersey Strands, und Cape May tief im Süden auch. Im proletarisch angehauchten Gartenstaat, wo viele Männer so aussehen, als kämen sie mit ihren sehr blonden Ehefrauen frisch aus einer „Sopranos“-Episode, hier, wo Bratwurstbuden und kilometerlange Holzpromenaden den Ruf des „Miamis der kleinen Leute“ begründet haben, ist Springsteen Volkssänger und Volkseigentum in einem. Hier haben die Mühseligen und Beladenen, die in Songs wie „Darkness on the Edge of Town“ heroisch durchs Leben scheitern, ihre Vorbilder.
Springsteen hängt an seiner Heimat
„Er war ja nie wirklich weg“, sagt Mike Tobias. Und hat den Beweis dafür selbst erlebt. „Eines Abends guckt einer bei mir durch die Verandatür und fragt: Haste noch ein Bier übrig? Bin fast gestorben. Es war Bruce.“ Alle Jubelmonate setzt sich der ganz in der Nähe in Colts Neck und Rumson mit Frau und Kindern auf zwei großen Anwesen lebende Multimillionär auf seine Harley oder in einen Pickup-Truck und durchkämmt sein altes Viertel. „Diese Stadt, meine Stadt“, schreibt der heute 67-Jährige in seiner bewegenden Autobiografie, „würde mich nie verlassen, wie auch ich sie niemals komplett verlassen könnte.“ Von anderen Giganten aus Jersey wie Frank Sinatra, Count Basie, Norman Mailer sind solche Sätze nicht überliefert.
Zur ersten Signierstunde mit dem „Boss“ standen 2000 Fans vor dem einzigen großen Buchladen Freeholds im Morgengrauen Schlange. Springsteen, preußisch diszipliniert auch hier, kam 90 Minuten früher. „Good boy“, sagt Shirley Mcginty. Die 62-Jährige hat beeindruckt, „wie offen Bruce das verflucht schwierige Verhältnis zu seinem Vater ausbreitet.“ Im Buch steht: „Er liebte mich, aber er konnte mich nicht ausstehen.“
Aber auch „Brucologen“, die eigentlich schon alles wissen, werden fündig in dieser verschriftlichten Form eines typischen Vier-Stunden-Konzerts. Im „Stone Pony“ im 20 Meilen entfernten Küstennest Asbury Park, einem Klub, in dem Springsteen und seine E-Straßen-Band an die 90 Mal aufgetreten sind, sitzt der 57-jährige Steve an der Theke, Fan seit den frühen 70ern. „Das mit den Depressionen, den tiefen Tälern gerade nach gigantischen Konzerten, das war mir so nicht klar.“
Depressionen? Mike Tobias stutzt. Er holt ein Foto aus der Tasche. Es zeigt ihn grinsend neben dem „Boss“ nach einem Zechgelage im Haus seiner Kindheit, Institute Street, Nr. 39 einhalb. „Er kam einfach vorbei. Wir redeten, wir tranken. Es war gut. Bruce bleibt immer einer von uns.“
So freudig die Fans auf die Boss-Autobiografie gewartet haben, so gleichgültig dürften sie das begleitende Album „Chapter And Verse“ (Sony/Columbia) aufnehmen. Denn auch wenn fünf der Songs unveröffentlicht sind, sind sie eher für Springsteen-Historiker und Hardcore-Sammler interessant. Von den noch sehr rock’n’rolligen Songs der Castilles, wo Springsteen in den 60ern sang, bis zum Demo von „Henry Boy“, das 1972 kurz vorm Debütalbum entstand, findet sich wenig Sensationelles.
Die Autobiografie: Bruce Springsteen: Born To Run. Heyne, 670 S., 27,99 €