Essen. Der Literaturpreis Ruhr geht neue Wege, die Endrunde ist öffentlich: Hilmar Klute, Enis Maci, Sarah Meyer-Dietrich, Eva Sichelschmidt, Karosh Taha

Der Literaturpreis Ruhr sollte nur ein halbes Jahr aussetzen, er wurde 2019 erstmals seit 32 Jahren nicht verliehen und sollte zum 100-jährigen Jubiläum des Regionalverbands Ruhr (RVR), der ihn 1986 gestiftet hat, mit Glanz wieder auferstehen. Corona hat auch das zunichte gemacht, aus dem halben Jahr Pause wurde ein ganzes – aber nun soll er am 4. September dieses Jahres verliehen werden.

Max von der Grün, Brigitte Kronauer, Ralf Rothmann, Judith Kuckart

Der Preis, der bislang meist für ein Gesamtwerk verliehen wurde und dessen Namensliste von Max von der Grün bis Brigitte Kronauer, von Judith Kuckart bis Ralf Rothmann reicht, wird nun erstmals für ein einzelnes Buch verliehen. Damit verschiebt sich der Fokus von der Auszeichnung des kontinuierlichen Qualitätsniveaus einer Autorin oder eines Autors hin zu einer einmaligen Spitzenleistung. Entscheidend ist jetzt auch nicht mehr, ob die Ausgezeichneten aus dem Ruhrgebiet stammen, sondern die Frage, ob sie aktuell hier wohnen oder über die Region und ihre Menschen schreiben.

Ins Rennen um den Hauptpreis gingen diesmal Bücher aus dem Zeitraum Januar 2017 bis Februar 2020. Eine fünfköpfige Jury filterte aus 66 Titeln fünf heraus, die sie für preiswürdig hielt; diese fünf Bücher konkurrieren bis zum 4. September um den Hauptpreis, dessen Dotierung von 10.000 auf 15.000 Euro erhöht wurde (und statt der bisher zwei Förderpreise gibt es nur noch einen mit einer fast doppelt so hohen Dotierung wie bisher, nämlich 5000 Euro; zusätzlich wird, je nach Bedarf, ein undotierter Ehrenpreis verliehen).

Die fünf Bücher, von denen eines den Literaturpreis Ruhr 2020 erhalten wird, im Schnelldurchlauf:

Eva Sichelschmidt: Bis wieder einer weint. Roman. Rowohlt 2020, 480 S., 22 €.

Die Geschichte des Ruhrgebiets ist geprägt von Industriellenfamilien, die aber wiederum unterliegen der Dynamik persönlicher Wünsche, Träume, Ängste. Eva Sichelschmidt wuchs in Schwerte auf, und wenn sie nun im Roman an den Ort „Schwelte“ zurückkehrt, nimmt sie das große Ganze ebenso in den Blick wie individuelle Tragödien: den viel zu frühen Tod einer Mutter, die unterdrückten erotischen Neigungen eines Firmenerben, die Ungezähmtheit eines Kindes. Dank regelmäßiger Perspektivwechsel erleben wir Sichelschmidts Romanpersonal aus der Innen- ebenso wie aus der Außenperspektive, so können wir erleben, was meist unbekannt bleibt: die Eltern, bevor sie Eltern wurden, die Großmutter in ihrer Jugend. Und: das Ruhrgebiet, als es gerade erst Gebiet geworden war.

Karosh Taha: Beschreibung einer Krabbenwanderung. Roman. Dumont 2018, 250 S., 22 €.

Das starke Debüt von Karosh Taha spiegelt einige ihrer Lebenswege aus dem Irak ins Ruhrgebiet. Die Studentin Sanaa, 22, verlässt die Hochhauswohnung ihrer Familie gern. Drinnen sitzt ihr Vater Nasser schon tagsüber vor dem Fernseher und ihre Mutter Asija weint auf dem Balkon, während ihre Tante Khalida Intrigen spinnt: Sanaa fühlt sich von „dreihundertachtundsechzig Augen aus dem Hochhaus angeschaut, in dem so viele Familien, Schicksale und Mobiliar stecken, dass „nicht mal Platz ist für einen Liter Sonnenschein“. Sie ist zerrissen zwischen freiheitlicher Sehnsucht und der Hoffnung, der Mutter aus ihrer Depression helfen zu können. Sie lässt sich von Freund Adnan liebevoll bekochen und vom Geliebten Omer freizügig verwöhnen. Aber: Im Hochhaus gilt die Ehe noch als etwas, das arrangiert wird. So erzählt Karosh Taha von einer Parallelwelt, die eng ist und weit zugleich, weil wir in ihr die alten Gedankenpfade verlassen müssen.

Hilmar Klute: Was dann nachher so schön fliegt. Roman. Galiani Berlin 2018, 365 S., 22 €.

Klutes Roman beschreibt das Ruhrgebiet der 1980er-Jahre und erzählt auch seine Literaturgeschichte aus der Perspektive eines Zivildienstleistenden, der sich zum Literaten berufen fühlt und sich zwischendurch in die legendären Treffen der Gruppe 47 hineinfantasiert. Heraufbeschworen wird das Reviers als Wohn- und Schreibort von Nicolas Born und Ernst Meister und des Bochumer Literaturförderers Hugo Ernst Käufer. Die selbstironische Schilderung des jungen Bochumer Altenheimhelfers, der fast gehässige Ressentiments gegen einen Dichter wie Erich Fried pflegt, hat gehörige Anteile von historischer Realität. Dass er einen Schreibwettbewerb gewinnt und zu einem Literatentreffen ins realitätsgeschützte Westberlin fahren darf, bringt ihm neue Liebes- wie neue Leid-Erfahrung, aber auch das Selbstvertrauen dessen, der spürt, dass die anderen selbstverständlich auch nur mit Wasser kochen. So lernen der Held und sein Publikum, wie mühsam Literatur das Schwere des Lebens erhebt, bis es mit einem Vers von Peter Rühmkorf „nachher so schön fliegt“.

Enis Maci: Eiscafé Europa. Essays. Edition Suhrkamp 2018, 240 S., 16 €.

Enis Maci, die derzeit als Theaterautorin in München, Berlin und Wien Furore macht, hat mit ihren Essays in „Eiscafé Europa“ (dessen doppeldeutiger Titel zur Hälfte konkret in Essen zu verorten ist) einen sehr eigenen, jungen Ton und Stil gefunden. Sie reflektiert assoziativ, aber gründlich und treffend, aber auch ebenso eigen- wie widerständig: Feminismus, Digitalität, Vordringen der Rechtsextremen in ganz Europa, Aufstieg durch Bildung und Künstlerarbeit, Konkurrenz in der Marktwirtschaft, Weiblichkeit und islamische Kultur sowie die eigene Herkunft zwischen Balkan und Ruhrgebiet, über die sie weiß: „You can get the girl out of Gelsen, but you can’t get Gelsen out of the girl“, schreibt sie, man kriegt die junge Frau aus Gelsenkirchen heraus, aber nicht umgekehrt Gelsenkirchen aus der Frau... Enis Maci gewann 2010 den Förderpreis zum Literaturpreis Ruhr, anschließend studierte sie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und Kultursoziologie an der London School of Economics.

Sarah Meyer-Dietrich: Ruhrpottkind. Roman. Henselowsky Boschmann 2017, 223 S., 9,90 €.

„Ruhrpottkind“ ist als Jugendroman komplett aus der Ich-Perspektive der neunjährigen Jennifer erzählt; er führt zurück in die 1980er-Jahre. Neben Jenni, die in Gelsenkirchen-Horst bei ihrer alleinerziehenden Mutter, der Oma und mit ihrer kleinen Schwester Jana in neu-kleinbürgerlichen Verhältnissen aufwächst, stehen Jennis Freundin Nina, die Schule und die Welt ihrer Comics im Mittelpunkt. Die Eigenart der sportlich wie sprachlich (bis an die Grenze der Glaubwürdigkeit) hochtalentierten Jenni ist es, Redewendungen und Sprachbilder wörtlich zu nehmen und auf diese Weise komische, bisweilen auch schmerzhafte Situationen herbeizuführen. Die Erzählungen der unglücklich verwitweten Großmutter beflügelt die Phantasie der kleinen Jenni, erzählt aber auch viel über das ältere Ruhrgebiet. Sarah Meyer-Dietrichs Erzählweise lenkt den Blick unsentimental, hintergründig und voller Humor auf eine Welt aus Gegensätzen.