Essen. Eine Familiensaga im Ruhrgebiet: Eva Sichelschmidt erzählt im Roman „Bis wieder einer weint“ auch von einem prominenten Krupp-Erben.

Die Rautenberg’sche Maschinenfabrik liegt hoch über der Ruhr, noch höher aber liegt das Anwesen der Familie. Von hier, aus der Vogelper­spektive gewissermaßen, betrachtet Eva Sichelschmidt die kleinen Aufstiege, das Straucheln und Fallen einer Familie über drei Generationen – „Bis wieder einer weint“ ist der Titel dieser Ruhrgebietssaga, der trotz des Panaromablicks das Kunststück gelingt, sehr nah an ihre Figuren heranzurücken.

Wilhelm Rautenberg ist Dressurreiter mit Leib und Seele, sein Privatleben aber scheint ihm selbst zügellos. Mit 17 aus der Kriegsgefangenschaft geflohen, hat er „einen Knacks“ behalten – und als er mit Mitte 30 auf die 13 Jahre jüngere Inga trifft, hofft er auf Heilung.

Eva Sichelschmidt wuchs auf in Schwerte an der Ruhr

Dies ist die eine Ebene des Romans. Die andere wird aus der Ich-Perspektive erzählt von Wilhelms und Ingas jüngerer Tochter. Deren früheste Erinnerung wiederum, mit der Sichelschmidt einsetzt, ist der Tag der Beerdigung ihrer Mutter. Keine zehn Monate alt ist die Kleine und wird fortan bei den Großeltern aufwachsen.

Wer waren unsere Eltern, bevor sie unsere Eltern waren? Diese Frage steht im Zentrum des Romans, der von Verlust und (Selbst-)täuschung erzählt und seine Spannung oft daraus zieht, dass wir die Figuren auf zwei Ebenen erleben – dass die unnahbare Großmutter ebenso eine trauernde Mutter ist. Oder der abweisende Vater, dessen Männerfreunde immer jünger werden, guten Grund hatte zu verstecken, dass er zu „den Weichen“ gehört. Hier bringt Eva Sichelschmidt Arndt von Bohlen und Halbach ins Spiel, seine geschminkten Augenlider und die Partys, die er schmiss (auch Inga und Wilhelm sind geladen); sie stellt den Erbverzicht des Krupp-Erben in Zusammenhang mit seinem schlechten Ansehen – und dies wiederum mit seiner sexuellen Orientierung. Wilhelm aber will die Firma seines Vaters führen, koste es, was es wolle.

Interesse auch an der Region und ihrer Geschichte

Sichelschmidt, die in Schwerte aufwuchs, interessiert aber nicht nur die Vererbungslehre von Schuld, Angst und Traumata, sondern mindestens ebenso sehr die Region und ihre Geschichte. Wenn sie die Veränderungen in den Orten „Schwelte“ und „Herwede“ schildert, wenn die Bauern sich ihre Äcker als Bauland vergolden lassen oder Ingas Vater als Arzt plötzlich zu tun hat mit türkischen Frauen und Kindern, mit denen er sich nicht verständigen kann, dann macht sie Vergangenes bunt und anschaulich.

Das Verständnis, das sie so bei ihren Lesenden weckt, macht allerdings die Fallhöhe, das Drama, nur umso größer. Die Entfremdung von Vater und Tochter ist nicht aufzuhalten, weil sie nicht wissen (können), was wir wissen. Und jener kurze Moment, in der die Tochter und der Freund ihres Vaters gemeinsam Boy George singen – der ist so schnell vorbei, wie das Wasser der Ruhr fließt.

Eva Sichelschmidt: Bis wieder einer weint. Rowohlt Verlag, 480 S., 22 €