Essen. Was Hollywood kann, kann das Literaturbüro Ruhr schon lange: Es ruft einen virtuellen Lesezirkel ins Leben. Und eine Schriftstellerin moderiert.

Ein bisschen traurig ist das schon: Wenn man aus dem Kino kommt, dann meist mit Menschen, mit denen man die lustigsten, spannendsten Szenen noch einmal Revue passieren lässt. Wenn man aber einen Roman zuklappt? Dann muss man schon Glück haben, auf der nächsten Party jemanden zu finden, der das Debüt des uruguayischen Jungautors zufällig auch gelesen hat.

Womöglich ist es deshalb kein Wunder, dass Filmschauspielerinnen die Idee des „Leseclubs“ populär gemacht haben: Stars wie Emma Watson, die im Internet mit einigen ihrer Millionen Follower ihre Lektüre diskutieren. Zwar ist Hörde nicht Hollywood, aber ein bisschen Glamour möchte auch im Literaturgebiet Ruhr schon sein. So verweist das Literaturbüro Ruhr in seiner Werbung für den ersten virtuellen Lesezirkel auf die Vorbilder: „Was Hollywood kann, kann das Ruhrgebiet auch“ – mit dem „Shooting Star der hiesigen Literaturszene“.

Erste Lese-Show „Schots und Chae“ mit Till Beckmann

Karosh Taha sitzt im Essener Café Livres und sieht weder nach Star noch nach Szene aus, sondern ganz nett und zugänglich. „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ hieß das Romandebüt der im Irak geborenen Kurdin, die im Alter von neun Jahren nach Duisburg kam. Als der Roman im vergangenen Jahr herauskam, da arbeitete Taha noch als Englischlehrerin an einer Essener Gesamtschule. Heute ist die 31-Jährige freischaffende Schriftstellerin, erstmal jedenfalls, so schildert es Taha mit zurückhaltendem Ernst. Ihre Eltern sprechen gar nicht genug Deutsch, um ihre Romane zu lesen. Sie wirkt wie jemand, der jeden Schritt genau prüft. „Ich wollte frei sein, um Stipendien und Lesungen anzunehmen, die Erfahrung einer Jungschriftstellerin zu machen.“

Auf einer Lesung lernte sie den Schauspieler Till Beckmann kennen, bald war die Idee zu einer Lese-Show geboren: „Shots und Chai“ spielt mit Bildern, Musik, Videos und Worten, gefördert vom Literaturbüro Ruhr „als Ermöglicher“, so dessen Chefin Antje Deistler. Ein Ermöglicher soll auch der Lesezirkel sein, der auf der Seite www.literaturgebiet.ruhr an den Start gegangen ist. Um das Romandebüt der französischen Autorin Leila Slimani soll es gehen, Titel: „All das zu verlieren“.

Warum gibt es eigentlich keine „Lebefrau“?

Was Karosh Taha in diesem Roman gereizt hat? Es geht um Feminismus und weibliche Sexualität, „es hat mich interessiert, wie Slimani das verarbeitet“ (denn auch in Tahas Debüt lebte die Protagonistin ein freies Leben, jedenfalls außerhalb der Familienstrukturen). „Es geht um eine Mittdreißigerin in Paris, die erfolgreich als Journalistin ist – aber ihren Job, ihre Familie aufs Spiel setzt, weil sie sexsüchtig ist.“ Von hier aus kommt Taha schnell zu den Schubladen, in die Frauen auch heute noch gesteckt würden. Und zu der Beobachtung, dass es in der deutschen Sprache „keinen positiven Begriff gibt für eine Frau, die sexuell aktiv ist. Bei Männern sprechen wir davon, dass einer ein Weiberheld ist, ein Schürzenjäger, Lebemann, Casanova. Aber wir sagen nicht: Lebefrau oder Männerheldin.“

Eine lebhafte Diskussion scheint programmiert – „wir werden keine Meinungen unterdrücken“, sagt Antje Deistler. Gleiches gilt für die geplanten Live-Diskussionen, auch mit jenen Autorinnen und Autoren, die im Lesezirkel diskutiert werden – und die bei einem Auftritt dann einem Publikum gegenübersitzen, das nicht erst nach der Veranstaltung das Buch kauft, sondern vielleicht wissen will, warum es auf Seite 273 diese oder jene Wendung gibt.

„Mir ist wichtig, dass wir in ein Gespräch kommen“

Niemand muss Literaturgeschichte studiert haben, um mitreden zu können: Wenn da eine „Leseliese“ fragt, ob sie Emma Bovary kennen müsste, um Slimani zu verstehen, dann antwortet Karosh Taha mit einem entschiedenen Nein. „Mir ist wichtig“, betont Karosh Taha, „dass wir in ein Gespräch kommen. Es muss am Ende kein Fazit geben.“

Das ist dann so wie bei Kinofilmen: Die sieht auch jeder anders.