Essen. . Vom Irak ins Ruhrgebiet: Autorin Karosh Taha legt mit „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ ein starkes Debüt vor.
Die Studentin Sanaa ist 22 Jahre alt, sie hat einen festen Freund und einen Liebhaber und wird, sobald sie die Hochhauswohnung ihrer Familie verlässt, verfolgt von einem, den sie „den Volvomann“ nennt. Und sie verlässt es oft, dieses Hochhaus, in dem ihr Vater Nasser schon tagsüber vor dem Fernseher sitzt und ihre Mutter Asija auf dem Balkon weint und ihre Tante Khalida mit Freundin Baqqe Intrigen spinnt: „Ich schaue auf das Hochhaus, das mit dreihundertachtundsechzig Augen zurückschaut“ – und das so vollgestopft ist mit Familien, Schicksalen, weißen Plastikstühlen, Riesenantennen, dass „nicht mal Platz ist für einen Liter Sonnenschein“.
„Beschreibung einer Krabbenwanderung“ hat Karosh Taha ihren Migrations- und Entwicklungsroman genannt. 1987 im Irak geboren, kam Taha mit neun Jahren nach Duisburg, ist heute Lehrerin für Englisch und Geschichte an einer Gesamtschule in Essen. Sanaas Geschichte ist ihre und ist es doch nicht: „Ich bin in der kurdischen Community aufgewachsen“, sagt Karohs Taha, „aber ich habe andere familiäre Strukturen als Sanaa; meine Eltern sind zum Glück nicht an der Auswanderung erkrankt.“ Das Gefühl vieler Migrantenkinder aber, Verantwortung für die Eltern zu übernehmen, das teilt die Autorin – weil die Kinder die Sprache, die kulturellen Codes der neuen Heimat so viel schneller und besser lernen. „Das Deutsch meiner Eltern würde wohl nicht ausreichen, um meinen Roman zu lesen. Aber ich habe ihnen erzählt, worum es geht.“
Sanaa ist zerrissen zwischen freiheitlicher Sehnsucht und der Hoffnung, der Mutter aus ihrer Depression helfen zu können. Sie lässt sich von Freund Adnan liebevoll bekochen und vom Geliebten Omer freizügig verwöhnen, daheim aber fürchtet sie die Prophezeiung der alten Baqqe. Die sich später, in einem dramatischen Showdown mit dem „Volvomann“, beinahe zu bewahrheiten scheint: Im Hochhaus gilt die Ehe noch als etwas, das arrangiert wird.
Nein, Karosh Taha scheut das kulturelle Klischee keineswegs, bis hin zur gezielten Irritation. Denn wenn Mutter Asija eine Kugel in ihrer Schulter trägt und Vater Nasser diese als Kriegsverletzung ausgibt, um nach Deutschland zu kommen – dann lenkt sie den Blick nicht auf den Betrug, sondern auf deren Ursprung: „Die politische Situation ist so, dass wir nur Menschen aufnehmen, die aus Gründen des Krieges und der Unterdrückung flüchten. Wir zwingen Menschen, sich diese fantastischen Lügen auszudenken, um hier sein zu dürfen. Das ist das Traurige.“
Und so erzählt Karosh Taha von einer Parallelwelt, die eng ist und weit zugleich: weil wir in ihr die alten Gedankenpfade verlassen müssen. Mehr kann man von einem Roman kaum verlangen.
Karosh Taha: Beschreibung einer Krabbenwanderung. Dumont, 250 S., 22 €.