Gelsenkirchen. . Michael Gees ist international geschätzter Konzertpianist. Aber das war ihm nie genug. In Gelsenkirchen hat er das Consol-Theater angeschoben.

Michael Gees ist einer der stillen Riesen im Revier. Ein gefeierter Pianist, wenn er als Liedbegleiter Konzertsäle der Klassik von London über Paris bis New York in Staunen versetzt – und ein Macher, ein Anschieber, ein Ermöglicher, ein Ermutiger, der auch Musiker ist, daheim in Gelsenkirchen. Dort hat er auf der alten Zeche gleichen Namens das Consol-Theater aufgebaut, ein Ort, an dem Kinder, Jugendliche, Theater-Laien aller Art sich ausprobieren, sich als Künstler erfahren können und Stücke auf die Bühne wuchten, die sich hinter nichts und niemandem verstecken müssen. Die Menschen sollen fähig werden zum „Selbst-Ermächtigen“, wie Michael Gees das nennt.

Er selbst war ein echtes Wunderkind. „Westfälischer Mozart, jaja“. Er schmunzelt. Seine Eltern? Beide Sänger. Das Klavier zu Hause war ein Arbeitsinstrument, geliehen, für mehr reichte das Geld nicht. Mit drei Jahren schnappt sich der kleine Michael, Jahrgang ‘53, die Tasten, mit fünf konnte er „alle Musik spielen, die ich mir vorgestellt habe“. Und die außer ihm niemand hörte, niemand kannte. Andere spielen mit Klötzchen, er spielt mit Tönen. Dann aber bekommt er Unterricht, mit acht wird er Sieger im Steinway-Wettbewerb, bekommt ein Stipendium am Mozarteum in Salzburg, „von dem wir alle gelebt haben.“

Studieren in Wien und in Detmold

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Er studiert, noch nicht einmal Teenager, an den Hochschulen von Wien und Detmold. Aber alles, was er im Sandkastenalter frei von der Leber weg und aus dem Kopf gespielt hatte, galt nichts mehr. Und irgendwann hat er sich dann verweigert. Übte eine ganze Woche nicht. Spielte nicht, was er sollte. Der Drill zum Konzertpianisten wurde immer wichtiger als er selbst. Da ist er ausgerissen, mit 15, schlägt er sich durch mit Hilfsarbeiten, bei archäologischen Grabungen, fährt zwei Jahre zur See, „ich war ein richtiger Hippie“, sagt sein Schmunzelmund, sagen aber auch die träumerisch entrückten Augen. War ja auch die Zeit, ‘68 und die Jahre danach.

Dann, Mitte der ‘70er, studiert er aber doch noch mal, Klavier und Komposition, in Hannover. Und wird doch noch Konzertpianist. Mit Erfolg. Und eigenem Kopf. Zur Jahreswende 1986/87 ist er dann „auf blauen Dunst“ in Gelsenkirchen aus dem Zug gestiegen, hat sich eine Wohnung gesucht und blieb. Moment, Herr Gees: einfach so? „Vielleicht wollte ich mal meinen Namen auf dem Autokennzeichen haben, so wie ich jetzt eines spazierenfahre“ – Michael Gees vertraut eben nicht nur als Musiker seiner Intuition.

Unterschiedliche Menschen zusammenbringen

Heute lebt er im Stadtteil Resse, seinem „Dorf“, wie er sagt: „Ich kann nicht irgendwo sein, wo es nur schön ist“. Damals floh er vor dem gutbürgerlichen Dunst in Oldenburg in eine Stadt „die wirklich gekniffen war, Gelsenkirchen war arm dran“. Und gründete seinen Verein „Kunstvereint“, der unterschiedliche Menschen und unterschiedliche Kunstrichtungen zusammenbringen sollte, um etwas Neues entstehen zu lassen. Gemeinsam mit vielen anderen, versteht sich, mit der Theatermacherin Christiane Freudig etwa, die er für ihre Genauigkeit bewundert. Gemeinsam hatte man „die Sehnsucht nach einem Freiraum, den es sonst nicht gibt.“

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Wenn man Michael Gees zuhört, beim Reden, beim Klavierspielen, dann glaubt man sofort an den Reiz, der hervorspringt aus dem Moment, in dem plötzlich etwas anders ist und neu. Es gibt eine Erotik des Entstehens, nicht nur Jazz-Musiker kennen das. Anfangs hat Gees seine regelmäßigen, vor fünf Jahren begonnenen „Konzert-Meditationen“ auf Consol im Dunklen gespielt, er wollte die absolute Konzentration auf den Klang, die Töne, die Musik. „Aber das mochten die Menschen nicht“, hat Gees schnell gemerkt, „sie wollen es sehen, wie es entsteht.“ Die Gratwanderung zwischen Zeigen und Verstecken. Gees liebt das Publikum in Gelsenkirchen, „es ist sehr uneitel, es kommt nicht, um gesehen zu werden, sondern um zu hören, zu sehen.“

Eine ungewohnte Form der Interpretation

Wenn er in die Tasten greift, wenn er sie fast mehr streichelt als drückt, spielt er nicht etwa die klassische Klavierliteratur so genau wie möglich – er interpretiert, indem er hinzufügt, wie die Noten, die der Komponist aufgeschrieben hat, in seinem Kopf zu Musik werden. Eine Freiheit, die sich außer ihm nur noch wenige Pianisten nehmen. Dabei weiß er sich damit in einer alten Tradition: „Bis ins 19. Jahrhundert wurden Konzerte fast nur so gespielt, da war extemporieren an der Tagesordnung“. So wie es auch unter Schauspielern üblich war, zwischendurch einfach an die Rampe zu treten und nach Lust und Laune zu monologisieren; der Weimarer Theaterintendant Goethe musste es ausdrücklich verbieten. „Es ist das Werk, das sich ein Instrument gesucht hat, das Bach oder Mozart heißt“, glaubt Michael Gees, „genau wie wir Instrumente sind, in denen diese Werke heute erklingen.“

Gees lässt seiner Fantasie eher Spielraum als freien Lauf, aber nicht aus Egomanie. Er ist ein gesuchter Liedbegleiter für Sänger erster Güte wie Christoph und Julian Prégardien. Er ist einer, der im wirklichen Leben wie auch in der Musik die Begegnung sucht. „Ich lade ein in einen Zwischenraum, in dem etwas entsteht aus einer Beziehung mit einem anderen Musiker, das lässt dann nicht nur Töne, sondern den ganzen Raum klingen.“

Gees sollte zum Pianisten geformt werden

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Für Michael Gees ist das vielleicht auch deshalb so wichtig, weil man so lange mit aller Macht einen alles überragenden Solisten aus ihm machen wollte. „Der Impuls zum Miteinander“, schüttelt er bedächtig den Kopf, „ist mir in meiner musikalischen Ausbildung regelrecht verboten worden.“

Heute lehrt er die Improvisation mit der Stimme, die mehr oder minder spontane Liederfindung sogar an der Musikhochschule in Köln, seit 2009. Mit spürbarer Freude. Und großem Erfolg, bis in die Duett-Konzerte etwa mit Anna-Lucia Richter in der Kölner Philharmonie hinein: „Ich war wie vom Donner gerührt“, schwärmt er, „dieser Frau gibst du ein Gedicht in die Hand und es wird im Handumdrehen ein Lied daraus“. Was er da gedacht hat? „Das ist ja wie bei mir!“

Freiräume musste er verteidigen

Die Muße, die Freiräume dafür, muss er heute immer mehr verteidigen. Während die 90er-Jahre für ihn als Konzertpianisten goldene Jahre mit üppigen Honoraren waren, macht Michael Gees in den letzten Jahren immer häufiger die Erfahrung, dass Konzertveranstalter dem allgemeinen Zeitgeist erliegen und „für immer weniger Aufwand immer mehr Effekt“ haben wollen. Als reisender Künstler sei man heute „Immer wahnsinniger auf Tour, mit immer mehr Programmen“, die immer häufiger fremdbestimmt seien von willkürlichen Einfällen.

Man kann sich nicht recht vorstellen, dass Michael Gees so etwas lange mitmacht.