Gelsenkirchen. Er nennt sich Landmensch, lebt in einem niederländischen Dorf und doch glaubt der Ruhr Triennale-Chef Johan Simons, die Menschen an der Ruhr genau zu verstehen. Eine Begegnung.

Das nennt man ei­nen Weckruf: Wenn Johan Simons das Haus betritt, schafft sein Bariton das „Mooorgen!“ über drei Etagen. Vielleicht hat er das vom Dorf. Es ist ein kalter Donnerstagmorgen in Gelsenkirchen. Unser Treffen ist für einen Theatermann ziemlich früh – und dann reißt dieser Johan Simons bei zwei Grad plus auch noch das Fenster auf. „Frische Luft, frühes Aufstehen. Das ist der Landmensch“, sagt er.

Er meint jenes Landleben, das vor gut 50 Jahren fast dafür gesorgt hätte, dass aus dem Mann einer der besten Schauspielregisseure seiner Zeit ganz sicher nicht geworden wäre. „Als Junge wurdest du bei uns Bauer oder Buchhalter. Und Buchhalter war schon was: Die hatten keine schwarzen Hände.“ Er schaut fast ein bisschen ungläubig nach innen. „Wahnsinn, aber man dachte gar nicht daran, dass es noch was anderes gibt.“

Aber dann sieht der junge Johan in seinem südholländischen 800-Seelen-Dorf Heerjansdam fern. Es läuft „Peter Pan“, schwarzweiß, immerhin getanzt. „Ich habe das nachgemacht. Wie Billy Elliott!“ Heute, mit 68, muss er selbst über sich lachen. Wohl auch, weil die Anmutung eines zarten, ahnungslosen Knaben von diesem Simons 2015 so weit weg ist wie eine Windmühle von der Halde Rheinelbe.

„Das ist die falsche Kohle!“

Johan will unbedingt Tänzer werden. „Tänzer, in diesen Hosen, wo man alles sieht?“: Simons’ Vater ist außer sich, „das sind alles Homos“. Aber die wahre Macht im Hause ist Mutter Antonia, froh, dass wenigstens einer im Dorf mal über den Zaun nach draußen guckt. Johan macht seinen Weg: Tanzakademie, später Schauspiel und Regie.

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Und nun ist er der mit Spannung Erwartete, der Sinnliche nach der Goebbels-Ära voller rätselhafter Kunstkonstrukte. „Man darf das nicht mit Romantik überziehen, das ist Identität, die immer noch sehr wach gelebt wird“, sagt Simons über die Landschaft an der Ruhr. Und hat auch dazu eine Geschichte: Als Simons 2003 für die Ruhr Triennale „Sentimenti“ inszenierte, eine „Ehrbezeugung an die Arbeiter des Ruhrgebietes“, gab es ein imposantes Bühnenbild. „Mehr als zehntausend Briketts. Und dann kam ein Zuschauer, natürlich einer, der unter Tage gearbeitet hatte, und sagte: ,Das war schön, aber das ist die falsche Kohle!’“ Simons hat das imponiert. Gründungsintendant Mortier, Perfektionist vom Scheitel bis zur Sohle, war todunglücklich. Ja, nun, so sei es hier eben.

„Ich werde arbeiten, bis ich umfalle.“

Es ist wärmer geworden im Intendantenbüro, nicht nur weil das Fenster zu ist. „Schwierige Zeiten für die Kultur“, sagt Simons leise und erinnert in Zeiten des Kaputtsparens der Theater und Orchester daran, dass Churchills Verteidigungsminister im Zweiten Weltkrieg den Kulturetat komplett für Waffen einsetzen wollte. Churchill habe geantwortet: „Wofür kämpfen wir denn da draußen?“ Ja, Werte verteidige das Theater, sagt Simons, „Sisyphusarbeit“, ganz bestimmt, aber eine, die er nie mehr aufgeben wolle, nie aufgeben könne: „Ich werde arbeiten, bis ich umfalle.“

„Ich bin ein Mann aus einfachen Verhältnissen“

Wenn unsere Leser fragen würden, wer Sie sind, Herr Simons, was wäre die Antwort? „Wer bin ich?“, fragt er. Ob wir für die Antwort fünf Minuten Denkpause machen sollen. „Das wird nicht helfen“, sagt Simons – eine seiner staubtrocken servierten, witzumwehten Wahrheiten. „Ich bin ein Mann aus einfachen Verhältnissen. Ich habe ein Gespür für die Bevölkerung hier.“ Nein, damit wolle er nicht sagen, dass hier nur einfache Menschen zuhause seien. „Aber diese Region, die verstehe ich sehr wohl. Man hat mich sehr bewusst geholt.“ Tatsächlich wird Simons bei ThyssenKrupp anfragen, ob er einen Tag dort arbeiten kann. „Ob sie mich lassen, da bin ich sehr gespannt.“

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Nie käme man darauf, diesen Johan Simons mit seinem Gesicht, das aus einem intensiv gelebten Leben kein Hehl macht, Schwärmer zu nennen. Sein Händedruck hat Kraft, sein Ton ist von geräuschiger Autorität. Und doch: Wenn er von der Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg spricht, spürt man, wie es ihn elektrisiert. „Einen Raum von unglaublicher Kraft“, nennt er das, „ein grandioses Bühnenbild aus sich selbst heraus“.

Mortier: Kolumbus. Simons: Indianer

Neu sind diese theaterfremden Orte nicht für ihn. Es klingt nicht einmal unbescheiden, wenn er sagt, dass er diese Welten erschlossen hat, vor 30 Jahren, in der niederländischen Provinz. Kulturpolitiker fragten: „Ja, wofür haben wir denn Theater gebaut?“ Sie fragten nicht mehr, als Simons Scheunen bespielte und Fabriken. „Wenn diese Theaterform Amerika wäre, ist Gerard Mortier Kolumbus. Aber ich bin der Indianer!“

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Mortier, so gegensätzlich dieser zarte Flame mit seinen Einstecktüchlein gegenüber Simons scheint, ist als Triennale-Chef dessen großes Vorbild. Der Bandbreite wegen, aber besonders des starken Bewusstseins, was für ein Theater gerade diese Landschaft brauche. Beide übrigens sind Bäckersöhne.

SMS von Gerard Mortier

Vielleicht ist Mortier gar sein guter Stern in diesen Tagen. Simons holt sein Smartphone hervor und zeigt eine SMS vom März 2014. Gerard Mortier hat sie geschrieben und

Johan Simons zu dessen Triennale-Plänen gratuliert. Das letzte Wort: „Glückauf!“ Einen Tag später ist Mortier gestorben. Es gibt Geschichten, die kein Dramatiker erfinden kann.