Duisburg. . Heiner Goebbels taucht mit Louis Andriessens ungewöhnlicher Oper „De Materie“ zum Auftakt seiner letzten Saison als Intendant der „Ruhrtriennale“ tief in die Fragen des menschlichen Seins ein. Auf der Bühne sind außer einer Hundertschaft Schafe auch eine holländische Nonne und Marie Curie.

Zum Abschluss seiner dreijährigen Amtszeit als Intendant der Ruhrtriennale taucht Heiner Goebbels in die tiefsten Regionen und Fragen des menschlichen Seins ein. Mit Louis Andriessens Musiktheater „De Materie“, das mit seinen besonderen Anforderungen an städtischen Opernbühnen keine Überlebenschance hat und nach der Amsterdamer Uraufführung vor gut 25 Jahren auch nirgends mehr zu sehen war.

Ein Werk, das zugleich introvertierte Ruhe und pulsierende Vitalität ausstrahlt, formal in keine gängige Nische des Musiktheaters passt und Freiräume für fantasievolle Höhenflüge offenlässt. Ein idealer Stoff für Heiner Goebbels Neugier nach neuen, ungewöhnlichen Formen des Theaters.

Libretto aus originalen Dokumenten

Das Libretto des vierteiligen, insgesamt knapp zweistündigen Werks setzt sich aus originalen Dokumenten zusammen, die verschiedene Seiten des menschlichen Seins beleuchten. Die Unabhängigkeitserklärung der Niederlanden von Spanien, die sexuell gefärbte Vision einer mittelalterlichen Nonne, Anleitungen zum Schiffsbau, ästhetische Gedanken Piet Mondrians und die Trauer Marie Curies um ihren verstorbenen Mann vereinigen sich zu einem auf den ersten Blick willkürlich zusammengesetzten Kaleidoskop menschlicher Erfahrungen, Befindlichkeiten und Begierden.

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Musikalisch verwendet Andriessen ein entsprechend weitgefächertes Vokabular vom gesprochenen Dialog über isolierte Akkordblöcke bis zu impulsiven Tanzrhythmen. Alles das setzt er sparsam und pointiert ein, wodurch sich trotz etlicher Repetitionen niemals die tönende Geschwätzigkeit einstellt, zu der sich heute etliche seiner Kollegen animiert fühlen.

Fantastische Bühnenbilder

Die Ruhe und Weite seiner Musik findet ihre ideale Entsprechung in den riesigen Dimensionen der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks. Die Bühnentiefe reicht an die 100 Meter, so dass sich sogar eine vielköpfige Schafherde in der Weite des Raums zu verlieren scheint. Zu stetig anschwellenden, sich zu einem stilisierten Schreittanz verdichtenden Akkordblöcken bewegen sich die Tiere diszipliniert durch die ehemalige Industriehalle, bevor im letzten Teil ein Tod-umranktes Gedicht von Willem Kloos und die Gedanken der trauernden Marie Curie über ihren Mann und zu ihrer Arbeit über den Zerfall der Materie für einen ausgesprochen beeindruckenden, stillen Schlusspunkt sorgen.

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Heiner Goebbels hält sich als Regisseur klug zurück und lässt die einmalige Industrie-Kulisse, die fantastischen Bühnenbilder von Klaus Grünberg und die sensiblen Klänge für sich sprechen. Das Verhältnis von enormem Aufwand und künstlerischem Ertrag wirkt hier erfreulich ausgewogen, was man nicht von jeder Produktion der Ruhrtriennale behaupten kann.

Differenzierte Solisten

Drei Zeppeline schweben durch die Halle, riesige geheimnisvolle Zelte füllen die Bühne, bizarre Projektionen zu Mondrians Ästhetik üben eine magische Wirkung aus und die umherirrende Schafherde verbreitet eine bestrickende Stimmung feiner Melancholie.

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Nirgends drängt sich der immense Aufwand protzig in den Vordergrund. Auch in der Personenführung dreht Goebbels nicht an der aktionistischen Schraube. Nahezu unbeweglich, aber äußerst differenziert und ambitioniert tragen die Solisten ihre Monologe vor: Der Tenor Robin Tritschler als barocker Atomwissenschaftler Gorlaeus, die Sopranistin Evgeniya Sotnikova als Nonne Hadewijch und die Schauspielerin Catherine Milliken als Marie Curie. Einzig die Tänzer Gauthier Dedieu und Niklas Taffner durchbrechen zu schmissigen Tanzrhythmen im Mondrian-Akt die introvertierte Aura.

Hohe musikalische Qualität

Acht Sänger des ChorWerksRuhr, eine vielköpfige Statisterie und nicht zuletzt „100 Schafe aus dem Raum Düsseldorf“ ergänzen das Ensemble. Das groß besetzte „Ensemble Modern“ unter Leitung des versierten Spezialisten Peter Rundel setzt die komplexe Partitur leuchtkräftig um und verleiht der hohen musikalischen Qualität der Produktion den letzten Feinschliff.

Viel Beifall des sichtlich beeindruckten Publikums mit einer Produktion, die in ihrer ästhetischen Zurückhaltung und atmosphärischen Dichte das effektbetonte Spektakel von „Delusion of the Fury“ im letzten Jahr um mindestens eine Klasse schlägt.

Die nächsten Aufführungen in der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg Nord: am 22., 23. und 24. August. Informationen: www.ruhrtriennale.de