Essen. Wir sollten dem Beispiel Österreichs folgen und „2G“ jetzt einführen – in ganz NRW oder, noch besser, bundesweit. Unsere Freiheit ist in Gefahr.
Nichts ist so ernst wie der Karneval. Wer, wie ich das getan habe, einige Jahre im Rheinland gelebt hat, weiß das. Vor allem sollte man jene, die sich aus tiefstem Herzen als „Närrinnen und Narren“ bezeichnen, nicht als oberflächliche Witzbolde abtun. Seit Jahrhunderten gehört es zur DNA der karnevalistischen Narren, Gesellschaft und Politik aufs Korn zu nehmen, ihre Schwächen offenzulegen und dadurch den Spieß gleichsam umzudrehen, so dass sich jeder unweigerlich fragt: Wer ist hier eigentlich der Narr?
Es überrascht mich daher nicht, dass man in den rheinischen Karnevalshochburgen in Köln und Düsseldorf angesichts neuer Corona-Inzidenz-Höchstwerte sofort verstanden und akzeptiert hat, dass nur Geimpfte und Genesene mitfeiern dürfen. Während sich die NRW-Landesregierung noch etwas schwer damit tut, sofort landesweit „2G“ für alle Innenräume und Orte, wo Menschen dicht zusammenkommen, einzuführen, soll das vom 11.11. an, ab 11.11 Uhr, in den Feier-Hotspots selbstverständlich sein. Und das hat mit einem mangelnden Freiheitsverständnis der Karnevalisten, wie mancher Impfverweigerer nun meint, nichts zu tun. Ganz im Gegenteil. „2G“ macht Karneval auf vernünftige Weise erst möglich.
Corona ist für die Geimpften noch lange nicht vorbei
Die Freiheit des Einzelnen endet immer dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Darüber sollten auch einmal die prominenten Vertreterinnen und Vertreter jener Partei verstärkt nachdenken, deren Namen mit einem „F“ beginnt und die sich gegen „2G“ (noch) sperrt. Mir geht die Nachsichtigkeit der Liberalen mit den Impfverweigerern hierzulande deutlich zu weit. Dass wir derzeit eine „Pandemie der Ungeimpften“ erleben, in der es vor allem die Impfverweigerer sind, die die Inzidenzen nach oben drücken, ist zwar einerseits zutreffend – darf aber andererseits nicht zu dem Fehlschluss führen, das gehe die Geimpften nichts an und sei allein Sache der Ungeimpften. Vielmehr nimmt die Minderheit der Ungeimpften die Mehrheit der Geimpften in Geiselhaft. Die Ungeimpften beschränken und gefährden uns alle.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.
Wer geimpft ist, für den ist Corona vorbei? Denkste! Natürlich können wir Geimpften gelassener auf Inzidenzen jenseits der 200 blicken als vor einem Jahr. Unser Risiko, mit einer Corona-Erkrankung ins Krankenhaus zu müssen oder gar zu sterben, ist verschwindend gering. Aber: Auf sehr unangenehme Weise erkranken können wir wohl. Und Long Covid ist eine bittere Realität, deren Tragweite noch immer nicht von allen erfasst wurde. Die Booster-Impfungen stocken, was ältere Menschen mit nachlassendem Impfschutz jetzt und in den kommenden Wochen in Gefahr bringt. Besonders alarmierend: Die Intensivstationen laufen voll. Wer im Winter nach einem Infarkt oder einer anderen ernsthaften Erkrankung mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren wird, könnte mit fehlenden Kapazitäten konfrontiert werden – Kapazitäten, die erkrankte Ungeimpfte blockieren.
Ausgerechnet jetzt fällt die Maskenpflicht im Unterricht?
Liebe FDPler, und in dieser Situation, ausgerechnet jetzt, da die Infektionen bei den ungeimpften Schulkindern durch die Decke gehen, schafft Eure glücklose Schulministerin in NRW auch noch die Maskenpflicht im Unterricht ab? Habt Ihr eigentlich noch alle gelb-blauen Tassen im Schrank?
Als wenn wir Eltern nicht schon genug Druck aushalten müssten! Die meisten von uns möchten nicht, dass sich unsere Kinder ungeimpft infizieren – allen Beteuerungen der Ministerin zum Trotz, da werde schon nicht viel passieren. Während die Kleinen unmittelbar nach Sankt Martin damit beginnen, aufs Christkind zu warten, warten wir auf die Zulassung der Impfung für die Kinder ab Fünf. Es ist ein Wettlauf mit dem Virus, und die Ministerin hat dem Virus gerade einen weiteren Vorteil verschafft.
Warum ist die Stiko so langsam?
Dass es mit der Zulassung der Impfung für die Kleinsten wieder einmal dauert und dauert, zehrt zusätzlich an den Nerven. Erst im Dezember will die Europäische Arzneimittelbehörde über den Impfstoff entscheiden; bei der Ständigen Impfkommission (Stiko) dauert´s voraussichtlich noch länger. Und ich stelle mir (und jetzt auch Ihnen) die – zugegebenermaßen rhetorische – Frage, ob man folgende Frage stellen darf: Warum brauchen unsere Expertinnen und Experten dafür sehr viel länger als deren Kolleginnen und Kollegen in den USA, die bekanntermaßen nicht zu leichtfertigen und/oder politisch motivierten Urteilen kommen?
Was die Sache so heikel macht: Es geht im Kern um Vertrauen. Hohes Vertrauen sorgt für eine hohe Impfbereitschaft, Misstrauen sorgt für Impfverweigerung. Wenn es um Kinder geht, gilt das umso mehr. Wie sehr also vertrauen wir Deutschen unserer Stiko? Und was passiert, wenn man allzu öffentlich und allzu deutlich fordert, dass die Stiko endlich Tempo machen soll?
Ein unheilvoller Mechanismus zerstört Vertrauen
Der unheilvolle Mechanismus geht ja so: 1. Die Stiko provoziert durch ihre Zögerlichkeit kritische Fragen. 2. Derlei Kritik übt Druck aus. 3. Entscheidet die Stiko endlich, glauben viele Menschen, sie habe dem Druck nachgegeben. 4. Die mutmaßlich unabhängige Entscheidung der Stiko ist teilweise diskreditiert. 5. Das Vertrauen ist beschädigt. 6. Die Impfbereitschaft sinkt, obwohl die Wirkungen einer Infektion nach Überzeugung der Stiko deutlich gefährlicher sind als die Nebenwirkungen des Impfstoffes.
Es ist zum Mäusemelken. Spanien, Italien, Portugal, Belgien, Dänemark, Finnland, Irland – überall dort haben sich mehr Menschen impfen lassen als in der Musterknaben-Republik Deutschland. Vor allem da, wo die Menschen das Elend im vergangenen Jahr, als es die Impfung noch nicht gab, direkt gespürt haben, wo Verwandte und Freunde auf den Straßen vor den Kliniken gestorben, nein: verreckt sind, überall dort ist es eine Selbstverständlichkeit, sich impfen zu lassen. Überall dort versteht man, was für ein Segen es ist, über funktionierende Vakzine zu verfügen, zumal der größte Teil der Welt, wo die Armut zu Hause ist, von solchen Möglichkeiten nur träumen kann.
Geldgeschenke fürs Impfen? Wie pervers ist das denn?
Ich habe darum auch überhaupt kein Verständnis für die Idee, Ungeimpfte nun mit finanziellen Anreizen dazu zu bringen, sich doch noch die Spritze geben zu lassen. Alena Michaela Buyx, die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, hat genau das gerade in einer Talkshow vorgeschlagen. Ich fände es pervers, solche dummen und unsozialen Zögerlichkeiten auch noch zu belohnen, während in Afrika und anderswo Menschen ersticken, die alles für eine Impfung gegeben hätten.
Ja, es ist richtig, mit Hilfe von „2G“ Druck auszuüben, um uns vor den Ungeimpften zu schützen und die Ungeimpften vor sich selbst. Die Österreicher zeigen, wie es geht. Aus Angst, nicht mehr ins Restaurant gehen zu dürfen, hat ein flächendeckendes „2G“ in Österreich einen regelrechten Impf-Boom ausgelöst: Schnitzelpanik! Warum sollte das nicht auch bei uns funktionieren? Man kann sich ja nicht nur von Currywurst ernähren.
Hendrik Wüst hat verstanden
Immerhin hat das der neue NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst nun verstanden und will die Einführung einer landesweiten 2G-Regel „prüfen“ – was immer das genau heißen mag. „Einführen“: Das wäre die kraftvollere Vokabel gewesen. Aber sehen wir es positiv: Wüst, seit ein paar Tagen auch Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz, hat die sich zuspitzende Bedrohungslage und die aktuelle Stimmung in einem Großteil der Bevölkerung verstanden und setzt sich jetzt für ein neues Bund-Länder-Treffen ein. Ziel muss sein, dass Deutschland die aktuelle Lähmung überwindet und zu einheitlichen, abgestimmten Maßnahmen kommt.
Schade ist es dennoch, dass Wüst nicht sofort handelt. Als Ministerpräsident des größten Bundeslandes könnte er ein Zeichen setzen, damit klar wird: Es gibt keine Narrenfreiheit für die Politik zwischen zwei Regierungen in der Pandemie. Es darf sie nicht geben.
Auf bald.