Essen. Religiös motivierte Beschneidung muss gesetzlich geregelt werden, sagt Verfassungsrechtler Christian Kirchberg. Nach der Empörung, die das Kölner Landgericht mit seinem Beschneidungsurteil unter Juden und Muslimen ausgelöst hat, geht der Jurist davon aus, dass es eine Regelung geben wird, „die die Beschneidung grundsätzlich straffrei stellt“.

Ist die Beschneidung eines Jungen aus religiösen Gründen Körperverletzung? Oder muss sie erlaubt sein, weil sie für Juden und Muslime zur Religion gehört, deren ungestörte Ausübung in Deutschland genauso im Grundgesetz verankert ist wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit? Dass verschiedene Grundrechtspositionen gegeneinander stehen, sei nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel, sagt Verfassungsrechtler Christian Kirchberg im Gespräch mit der WAZ Mediengruppe. Der Jurist hält es für unausweichlich, dass ein Gesetz erlassen wird, das religiös motivierte Beschneidung grundsätzlich straffrei stellt.

Das Landgericht Köln hatte einen Arzt nach der Beschneidung eines Jungen der Körperverletzung für schuldig befunden, weil es das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes höher bewertete als die religiösen Gründe der Eltern für die Beschneidung. Der Kölner Arzt wird nicht bestraft, weil er nicht wissen konnte, dass der Eingriff so eingeordnet werden könnte, befand das Gericht; auf diesen sogenannten "Verbotsirrtum" könnten sich Ärzte nach diesem Urteil allerdings nicht mehr berufen, erklärt Christian Kirchberg.

Jede Operation gilt juristisch als Körperverletzung

Wie könnte das Gesetz aussehen, wenn nach Artikel 2, Absatz 2 des Grundgesetzes jeder Mensch „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ hat und gleichzeitig nach Artikel 4, Absatz 2 die „ungestörte Religionsausübung“ gewährleistet wird? Da sieht Kirchberg kein unlösbares Problem, „man kann sich zu jedem Grundrecht eines denken, das damit kollidiert“, ein typisches Beispiel seien etwa Pressefreiheit und Meinungsfreiheit gegenüber den Persönlichkeitsrechten.

Generell werde jede Operation juristisch als Körperverletzung gewertet, die nach Paragraf 228 des Strafgesetzbuches erst durch die Einwilligung des Patienten – oder der Erziehungsberechtigten oder Angehörigen – straffrei wird. „Die Beschneidung ist ein uralter Ritus, der nie strafrechtlich hinterfragt worden ist“, stellt Kirchberg fest, der das Kölner Urteil für „unglückselig zugespitzt“ hält: „Man wird vermutlich nicht umhin kommen, diesen Ritus rechtlich zu billigen.“

Beschneidung transportiert ganz speziellen Glaubensinhalt

Und das, obwohl das Entfernen eines Stücks Haut ohne medizinischen Grund fraglos einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstellt. „Aber wir haben im Strafrecht zum Beispiel auch Strafvorschriften, die sich gegen die Verherrlichung des Nationalsozialismus richten“ – obwohl sie damit das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränkten; ein solches Sondergesetz – nur eben in die andere Richtung – kann Kirchberg sich vorstellen, um religiös begründete Beschneidungen straffrei zu stellen.

Die Religionsfreiheit werde im Fall der Beschneidungen wohl höher gewertet werden als das Recht auf körperliche Unversehrtheit, vermutet Kirchberg, Vorsitzender des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer; immerhin habe die Beschneidung im Judentum eine Jahrtausende alte Tradition, die einen ganz speziellen Glaubensinhalt transportiere.