Essen. . Religionsfreiheit oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit – was gilt mehr? Dieser Frage hat sich Anne Will in ihrer ARD-Talkrunde gewidmet. Und die Gäste machten deutlich: Nach dem Urteil des Köner Landgerichts, das eine Beschneidung als Körperverletzung wertete, besteht großer Diskussionsbedarf.
Was ist höher zu bewerten: Das Recht auf körperliche Unversehrtheit eines Kindes oder Recht auf freie Religionsausübung? Mit der hochkontroversen Debatte um Beschneidungen hat sich Anne Will am Mittwoch in ihrem allwöchentlichen Polit-Talk in der ARD auseinandergesetzt. Die Moderatorin präsentierte eine Vielzahl von zumeist unbekannten Gästen, die das gesamte Meinungsspektrum dieser Debatte abbildeten. Die einzige halbwegs prominente Besetzung auf der Gästecouch war die TV-Psychologin Angelika Kallwass, die sich als bekennende Atheistin gegen religiös motivierte Beschneidungen aussprach.
Den Anlass für die Sendung lieferte ein Urteil des Kölner Landgerichts, das einen Arzt in Köln wegen der von den Eltern gewünschten, religiös motivierten Beschneidung eines Jungen der Körperverletzung für schuldig befunden hat. Seitdem protestieren Juden und Muslime gegen dieses Urteil. Ihrer Ansicht nach stellt es einen massiven Eingriff in die Religionsfreiheit dar. Auch die deutsche Bischofskonferenz reagierte befremdet auf den Richterspruch. Hingegen hält es laut einer Emnid-Umfrage die Mehrheit der Deutschen für richtig, die Beschneidung von Kindern unter Strafe zu stellen.
Interessante Talk-Runde mit wenigen Prominenten
Obwohl – oder möglicherweise: gerade weil – der Promi-Faktor bei Anne Will am Mittwoch ungewöhnlich niedrig war, entwickelte sich die Beschneidungsdiskussion zu einem äußerst interesanten Austausch der vielfältigen Deutungsansätze – und zwar fern ab von jeder Polemik. Die Debatte lebte vor allem von den Argumenten, die die Gäste wie der Jura-Professor Holm Putzke oder der Rabbiner Yitshak Ehrenberg vorbrachten.
Die Diskussion streifte vielfältige, ungeklärte Fragen, die mit dem Beschneidungsurteil einhergehen. Etwa diese: Was ist höher zu bewerten – die körperliche Unversehrtheit eines Kindes oder das Recht auf Religionsfreiheit der Eltern? Die Gäste diskutierten über medizinische Argumente für Beschneidungen wie Hygiene, über mögliche Auswirkungen der Operation auf die kindliche Psyche aber auch die über Frage, ob Beschneidungen ein sexualisierter Männlichkeitsritus seien, der die Vorherrschaft des Mannes zum Ausdruck bringen solle.
Teil der religösen Identität oder Körperverletzung?
Der Rabbiner Ehrenberg argumentierte, die Beschneidung sei ein rein religiöser Akt und ein Geschenk der Eltern an ihre Kinder, weil diese durch die Beschneidungszeremonie in ihre jüdische Identiät eingeführt würden. Der Strafrechtler Putzke bewertete diesen Eingriff hingegen als Körperverletzung. Er plädierte dafür, dass Kinder erst dann beschnitten werden dürften, wenn diese alt genug wären, um sich bewusst für oder gegen die Beschneidung zu entscheiden.
Ist eine Beschneidung ein psychisches Trauma für Kinder? Putzke und Kallwass machten sich für diese Sichtweise stark. Die muslimische Journalistin Khola Maryam Hübsch betonte dagegen die „gesundheitlichen Vorteile, die durchaus zum Wohl des Kindes sein könnten“. Die ebenfals muslimische Frauenrechtlerin Seyran Ates sieht die nicht - und stellte fest: „Juristisch ist dies Körperverletzung.“ Die Beschneidung sei ein Eingriff in ein gesundes Organ. Das Elternrecht dürfe nicht über dem Kinderrecht stehen.
So klar das Für und Wider der Argumente in der Will-Sendung zutage trat, so offen blieb auch eine abschließende Bewertung. Dies allerding war keineswegs der Gesprächsführung der Gastgeberin Will geschuldet. Die Diskussion machte deutlich, welch weite Themenfelder dieser kleine, aber unumkehrbare Eingriff streift. Freiheit, Tradition und religiöse Identität stehen auf der einen Seite, das Grundgesetz, die Mündigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen, aber auch die körperliche und psychische Unversehrtheit von Menschen stehen auf der anderen Seite. Es bedarf keiner hellsehersichen Fähigkeiten, um festzustellen, dass diese Diskussion noch geführt werden und die Öffentlichkeit beschäftigen wird.