Essen. . Die Frage, ob Jungs beschnitten werden sollen oder dürfen, entzweit Religiöse und Psychologen. Für die einen ist es eine jahrtausendealte Tradition. Für die anderen “eine mindere Form des Kindsopfers“. In den USA diente die Beschneidung im 19. Jahrhundert einen simpleren, pragmatischeren Zweck.
Juden und Muslime in Deutschland sehen sich nach dem Kölner Urteil eines ihrer wichtigsten religiösen Rituale beraubt. Die Richter hatten die Beschneidung kleiner Jungen als Körperverletzung gewertet. Seither tobt eine große Debatte um ein kleines Stückchen Haut. Muslime und Juden protestierten, „das Urteil kann so nicht stehen bleiben“, sagt die Bamberger Rabbinerin Antje Yael Deusel und fordert eine juristische Neubewertung. Die Beschneidung von Jungen am achten Tag nach der Geburt sei eines der „wenigen absoluten und unveräußerlichen Gebote im Judentum“.
Unterstützung für diese Haltung kommt von Vertretern der evangelischen und katholischen Kirche. Sogar das israelische Parlament befasste sich mit dem Urteil des Landgerichts und zeigte sich beunruhigt. Die richterliche Entscheidung werde „Konsequenzen für alle Juden in Europa haben“, sagte ein Abgeordneter der Knesset.
Kinderärzte begrüßen das Urteil
Rückendeckung erhalten die Richter indes von medizinischer Seite. Die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie begrüßt das Urteil, es unterstreiche das Recht des kleinen Kindes auf körperliche Unversehrtheit.
Nach Ansicht des Düsseldorfer Arztes und Psychoanalytikers Matthias Franz kann eine Beschneidung von Jungen schwere seelische Schäden verursachen. Franz spricht von einer „sexuellen Gewalterfahrung“, die ein Leben lang nachwirken könne. „Ein Blick in die Gesichter vieler Jungen während der Prozedur zeigt den Aufruhr und den Schrecken, der im Gefühlsleben einiger dieser Jungen wohl auf Dauer konserviert wird“, schreibt Franz in dem Buchbeitrag „Männliche Genitalbeschneidung und Kindesopfer“.
In der Rolle des Opfers
Die Jungen, die sich im Alter von fünf bis sieben Jahren erstmals ihrer Geschlechtszugehörigkeit bewusst würden, erlebten in dieser sensiblen Lebensphase die Beschneidung als Drohung mit der „sehr realen Möglichkeit einer Kastration“. Das Ritual versteht Franz als archaischen Ausdruck patriarchalischer Kulturen, das dem Kind seine Rolle in der Gemeinschaft und in der Hierarchie schmerzhaft und unabänderlich klarmache. Der Junge „übernimmt die Rolle eines passiven Opfers – mit möglichen seelischen Langzeitfolgen“, so Franz weiter.
Die Beschneidung im Säuglingsalter, wie sie im Judentum seit Jahrtausenden praktiziert wird, sieht Franz als „zivilisatorisch ritualisierte Minderform des Kindesopfers“. Für die Betroffenen stelle dies ein Trauma dar, das zu dauerhaften körperlichen, sexuellen und psychischen Komplikationen führen könne. Eine Beschneidung kleiner Jungen lehnt der Mediziner daher ab, frühestens mit 16 Jahren könne ein solcher Eingriff erwogen werden, sofern der Jugendliche sich explizit einverstanden erklärt.
Auch für Wolfgang Schmidtbauer, Psychoanalytiker in München, ist die Entfernung der Vorhaut kein harmloser medizinischer Eingriff. Die Operation an Neugeborenen benötige rund 20 Minuten und sei extrem schmerzhaft. Ethisch besonders bedenklich werde der Akt dadurch, „dass es sich um einen medizinisch unnötigen Eingriff an einem nicht zustimmungsfähigen Patienten handelt“, schreibt Schmidbauer in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung.
Mittel gegen Masturbation
Schmidbauer verweist auch auf die sexualfeindlichen Motive, die in den USA zur beinahe flächendeckenden Beschneidung von Neugeborenen führten, egal welchen Glaubens. In den 1960-er Jahren wurden fast 90 Prozent aller Jungen routinemäßig beschnitten. In den vergangenen Jahrzehnten nahm diese Zahl in einigen Bundesstaaten ab, in ländlichen Gebieten blieb sie bei rund 80 Prozent.
Die Beschneidung hat in den USA weniger religiöse Gründe, sondern steht in der Tradition des einstigen Mutterlandes Großbritannien. Dort wurde im 19. Jahrhundert die Beschneidung als probates Mittel angesehen, die verpönte Masturbation zu verhindern. Sie ist damit ein Symbol für die Sexualfeindlichkeit der prüden viktorianischen Epoche.
Schmerz als heilsamer Effekt
Für die puritanische Haltung steht zum Beispiel John Harvey Kellog, der Erfinder der gleichnamigen Frühstücksflocken. Er war ein erklärter Feind der Selbstbefriedigung. 1888 schrieb er: „Eine Abhilfe für Masturbation, die bei kleinen Jungen fast immer erfolgreich ist, ist die Beschneidung. Die Operation sollte ohne Betäubung vorgenommen werden.“ Der Schmerz habe einen „heilsamen Effekt“.