Washington. Drei Zentimeter sind normalerweise nicht die Welt. Im Gehirn schon. US-Forscher haben jetzt nachgewiesen, dass das Sprachzentrum an einer anderen Stelle des menschlichen Gehirns liegt, als dies seit Carl Wernicke angenommen wird. Damit kippt eine weit über 100 Jahre alte Lehrmeinung.
Das Sprachzentrum unseres Gehirns liegt an anderer Stelle als bisher gedacht: Es befindet sich nicht hinter, sondern vor dem Bereich der Gehirnrinde, in dem wir Gehörtes verarbeiten. Das haben US-amerikanische Forscher jetzt nachgewiesen.
Die neue Position des sogenannten Wernicke-Areals weicht um drei Zentimeter von der bisher kartierten ab - in Bezug auf die Gehirnarchitektur und -funktion sei das kilometerweit entfernt, sagt Josef Rauschecker, einer der beiden Autoren vom Georgetown University Medical Center in Washington DC: "Das bedeutet, dass die Lehrbücher nun umgeschrieben werden müssen." Nahezu alle gängigen grafischen Darstellungen seien falsch, berichten die Forscher im Fachmagazin "Proceedings of the National Academy of Sciences".
Bereits 1874 hatte der deutsche Neurologe Carl Wernicke entdeckt, dass ein Areal im hinteren Schläfenlappen des Gehirns für das Verstehen von Sprache zuständig ist. Diese Position des Wernicke-Areals blieb bis heute gängige Lehrmeinung.
Das änderte sich auch nicht, als in den 1990er Jahren moderne bildgebende Verfahren zunehmend Indizien für eine Lage weiter vorn lieferten. "Die Mehrheit der Forscher hat sich davor gescheut, eine seit einem Jahrhundert etablierte Lehrmeinung auf Basis dieser Bilder umzustürzen", berichtet Erstautor Iain DeWitt. Aber das habe sich nun geändert: "Es ist jetzt nicht länger haltbar, Belege zu übersehen oder zu verwerfen, die die zentrale Rolle des vorderen und mittleren Schläfenlappens für das Verstehen gesprochener Sprache stützen", meint der Forscher.
Wichtig für die Behandlung von Schlaganfallpatienten
Die neue Erkenntnis ist unter anderem für die Behandlung von Patienten mit Schlaganfällen oder Schäden des Gehirns bedeutsam. Denn ist dabei das Wernicke-Zentrum verletzt, verstehen Betroffene häufig den Inhalt von Gesprochenem nicht mehr und geben sinnlose Sätze von sich. "Wenn ein Patient nicht sprechen kann oder Sprache nicht versteht, haben wir nun einen besseren Hinweis darauf, wo im Gehirn ein Schaden vorliegt", sagt Rauschecker.
Aber auch für die Frage, wie sich die Sprache einst entwickelte, ist die neue Erkenntnis nach Ansicht der Forscher wichtig. Denn die neue Position des Wernicke-Areals stimme genau mit der eines kürzlich bei Affen entdeckten ähnlichen Zentrums überein. Das belege, dass die Gehirnarchitektur bei Affe und Mensch auch in Bezug auf die Kommunikation ähnlicher sei als vielfach angenommen.
800 Koordinaten aus 115 Studien ausgewertet
Für ihre Studie hatten die Forscher 800 Koordinaten für die Lage des Sprachzentrums aus 115 Studien zusammengetragen. In den meisten Studien hatten Wissenschaftler aufgezeichnet, wo das Gehirn besonders aktiv war, wenn ihre Probanden Aufgaben zum Sprachverständnis bewältigen mussten.
Mit Hilfe eines statistischen Verfahrens analysierten Rauschecker und DeWitt, für welche Positionen es die meisten Übereinstimmungen gab. Zusätzlich führten sie auch eigene Messungen durch. Das Ergebnis spreche eindeutig für eine Position im vorderen Teil des sogenannten superioren temporalen Gyrus, dem oberen von drei Wülsten im Schläfenlappen. Damit liege das Wernicke-Areal eindeutig vor der allgemeinen Hörrinde des Gehirns und nicht dahinter. (dapd)