Wolgast/Vogt. .

Wenn Babys im ersten Jahr unruhig sind, viel schreien oder plötzlich Durchfall haben, stehen schnell die Zähne im Verdacht. Denn viele Probleme und Erkrankungen werden vom Volksmund dem Zahndurchbruch zugeschrieben. Der Kinderarzt und Autor Herbert Renz-Polster aus Vogt ist überzeugt, dass dieser Zusammenhang richtig ist: "Auch wenn viele Kinderärzte heute behaupten, vom Zahnen bekämen Kinder nichts als Zähne - manche bekommen mehr, zum Beispiel schmerzhafte Schwellungen oder einen wunden Po."

20 Zähne bahnen sich in den ersten drei Lebensjahren ihren Weg vom Kiefer durch die Zahnleiste. "Bei manchen Kindern sind die Zähne plötzlich einfach da, bei anderen Kindern dauert der Durchbruch scheinbar ewig und ist von Schmerzen begleitet", weiß auch Susanne Schober, Landesvorsitzende des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte in Mecklenburg-Vorpommern. Häufig sind die Stellen, an denen der Zahn durchbrechen wird, schon im Vorfeld gerötet, geschwollen oder berührungsempfindlich. "Die Babys speicheln auch oft stärker und haben rote Wangen", sagt die Kinderärztin aus Wolgast. Mitunter könne die geschwollene Zahnleiste sogar blau und wie eine Blutblase aussehen: "Das sieht dann natürlich extrem dramatisch aus, ist aber ein ganz natürlicher Vorgang, der vorbei ist, sobald der Zahn sich seinen Weg gebahnt hat."

Zusammenhänge kaum zu belegen

Oft vermuten Eltern, dass Zahnen die Ursache für Fieber, Infekte und Ausschläge ist. "Das ist allerdings wissenschaftlich nicht bewiesen", sagt Kinderarzt Renz-Polster. Die Erfahrung aus der Praxis zeige aber, dass Kinder mit starken Zahnungsbeschwerden etwas anfälliger für Infekte sind. Auch Susanne Schober ist überzeugt, dass der Prozess des Zahnes eine erhebliche Stresssituation für den kindlichen Körper darstellen kann, die das Immunsystem schwächt. "Dadurch kann es in dieser Phase natürlich eher mal zu Erkrankungen kommen." Zusammenhänge seien aber kaum zu belegen, da Kinder im ersten Lebensjahr generell einige Infekte durchmachen - auch unabhängig von den Zähnen.

"Wenn Kinder im Zahnalter, also ab etwa sechs Monaten, häufiger Erkrankungen haben, liegt das auch daran, dass in diesem Alter der Nestschutz nachlässt", sagt Renz-Polster. Mit dem Abstillen und dem Zufüttern von Brei muss das Immunsystem des Babys nämlich lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. "Dazu gehört eben auch der eine oder andere Infekt", meint der Mediziner.

Das Phänomen, dass Babys vor einem Zahndurchbruch stark fiebern, beweise auch nicht, dass das Zahnen für Fieber sorgt. Im Gegenteil, ergänzt Kollegin Schober: "Das Fieber sorgt eher für das Zahnen." Eine erhöhte Körpertemperatur fördere die Stoffwechselprozesse im Körper, erklärt die Expertin: "Dadurch wird auch der Zahnungsprozess beschleunigt und Zähne, die kurz vor dem Durchbruch standen, bekommen einen richtigen Schub."

Kein Entwicklungsschritt bei Babys wird unter Eltern so intensiv diskutiert wie das Zahnen. Susanne Schober kennt die Probleme leidgeplagter Eltern, weiß aber auch, dass es keine Patentrezepte gibt: "Sowohl die Beschwerden bei den Kindern als auch die Behandlungsmöglichkeiten unterliegen keiner Regelhaftigkeit." Während manche Kinder einfach nur stark speicheln und gerne auf kühlen oder harten Beißringen lutschen, haben andere Durchfall, einen wunden Po oder sind nachts extrem unruhig.

Bernsteinketten können gefährlich sein

Eine Langzeituntersuchung an der amerikanischen Cleveland Klinik hat zehn Symptome eindeutig mit dem Zahnen in Verbindung gebracht: Beißen, Zahnfleischreiben, Ohrreiben, starkes Speicheln, erhöhte Erregbarkeit, häufiges Aufwachen, vermehrtes Saugen, Hautausschläge im Gesicht, verminderter Appetit auf feste Nahrung und leichtes Fieber.

Manche Eltern greifen in dieser Situation zu Bernsteinketten, deren angebliche Heilwirkung die Zahnungsbeschwerden lindern soll. Medizinisch bewiesen ist das nicht. Die Kinderärztin warnt sogar davor, Babys diese Ketten umzulegen. Denn es besteht die Gefahr, dass die Ketten sich verhaken oder reißen. Babys könnten sich dadurch verletzen oder die Steine verschlucken.

Susanne Schober ist überzeugt, dass die beste Therapie für das zahnende Baby entspannte Eltern sind. "Eltern sollten sich immer wieder klar machen, dass das Zahnen ein natürlicher, zeitlich begrenzter und ungefährlicher Vorgang ist, der auch wieder vorbei geht." Diese Gewissheit helfe dabei, gelassen zu bleiben und für das Kind ein starker Begleiter zu sein. Trösten, Tragen, Kuscheln und Liebhaben - wenn Mama und Papa in der Betreuung innere Ruhe ausstrahlen, überträgt sich das direkt aufs Kind, weiß die Expertin: "Diese fürsorgliche Betreuung wirkt besser als jede Medizin." (dapd)