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"Es gibt keine Systeme, die ohne Regeln funktionieren", sagt Bodo Hombach, Geschäftsführer der WAZ Mediengruppe, und fordert eine Debatte über Netz-Regularien. "Augen zu und durch" ist keine Lösung, sagt er. Eine Replik.

Ein neues Thema vagabundiert durch die Landschaft, und man darf sich fragen, warum es jetzt erst Bewegung auslöst. Es gab schon harmlosere Paradigmenwechsel in der Geschichte der Zivilisation als die Erfindung des Internets, und sie wurden heftiger diskutiert. Deshalb zunächst einmal herzlichen Dank an die, die die Debatte aufnehmen und weiterführen, wie kontrovers auch immer. Denn es geht zunächst um nichts anderes als die Unterbrechung der Verdrängungsspirale („Das ist zu komplex, um erörtert zu werden“).

Das Internetmanifest ist kein Suchscheinwerfer - sondern eine Nebelkerze

Erstaunlich ist die Hilflosigkeit zahlreicher Gruppen, die sich eigentlich traditionell und manchmal kompetent um eine verantwortliche Gestaltung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bemühen. Neuere historische Forschung schreibt ausgerechnet den damaligen Freibeutern und Piraten zur See vorbildliche Organisationsstrukturen und ein sozial durchkomponiertes Regelwerk zu.

Erschütternd ist die Abstinenz der bisherigen Politik, die sich ehedem bei den klassischen Medien mächtig ins Zeug gelegt hat – durchaus des Öfteren mit Sinn und Verstand – und nun schüchtern und ahnungslos am Wegrand steht, während sich eine neue und folgenreiche Großstruktur unserer Welt etabliert und außer Rand und Band gerät. In diesem Vakuum tut es geradezu wohl, wenn ein Disput entsteht, und es tut auch gar nicht weh, sich Widerspruch einzufangen. Wenn nur die Apostel der schönen neuen Welt nicht gleich mit Endzeit-Predigt und Weherufen antworten würden. Hüben wie drüben zählt am Ende nicht der missionarische Schwung, sondern die Validität der Argumente, und die 17 Thesen des jüngst erschienenen „Internet-Manifests“ können es ja nicht schon gewesen sein. Sie ähneln nämlich eher einer Nebelkerze als einem Suchscheinwerfer.

Anarchie führt zur Machtübernahme der Rücksichtslosen

Die frühen Menschen konnten nur überliefern, dann aufschreiben und später vervielfältigen. Neuerdings kann die Menschheit fast ihr gesamtes Wissen theoretisch an jedem Ort jedem zur Verfügung stellen. Quantensprünge, aber die moralischen Prinzipien des Zusammenlebens sind dadurch nicht außer Kraft gesetzt. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Wenn dort Verbrechen geplant und durchgeführt werden, wenn skrupellose Drahtzieher das humane Genom der Gesellschaft attackieren, wenn vor allem auch schutzbedürftige Gruppen wie Kinder und Jugendliche den gemeinsten Gewaltphantasien ausgesetzt werden, dann ist die geforderte „unantastbare Freiheit“ purer Zynismus.

Ein Medium, das massenhaft Opfer produziert, hat seine universelle Freiheit längst aufgegeben. Anarchie führt eben nicht zur herrschaftsfreien Gesellschaft, sondern zur Machtübernahme durch die Rücksichtslosen. Man kann sich fragen, wie man z. B. Kinderpornografie im Internet eindämmt und möglichst verhindert, aber im Sinne der unantastbaren Freiheit gar nichts zu unternehmen, ist die Insolvenzeröffnung des Rechtsstaates, einer verantwortlichen Politik und einer offenen und freien Bürgergesellschaft.

Direkter Dialog zwischen von der Leyen und Kritikern wünschenswert

Die bekannten Vordenker des Internets sind hier allerdings unverdächtig. Ihre Ablehnung der Sperrungsstrategie der Ministerin von der Leyen ist nicht Fundamentalopposition. Sie machen eigene Vorschläge zur wirksameren Bekämpfung. Massenhaft, ehrlich und konkret. Diese ernst zu nehmen ist sicher zielführend. Wie schön wäre es, den direkten Dialog mit denen aufnehmen zu können. Dolmetscher und Vermittler sind gefragt. Meine Einladung zum Dialog jedenfalls ist schon von dem einen oder anderen angenommen worden.

Zu viele fallen in fidele Resignation: Missbrauch sei immer, und leider müsse man damit leben. Man möchte so gern glauben, um nicht weiter denken zu müssen. Aber es macht einen Unterschied, ob die demagogischen Angriffe extremistischer Gruppen und die abartigen Bedürfnisse Einzelner in den Schmuddelecken der Gesellschaft unter dem Ladentisch obskurer Kaschemmen angeboten werden, oder ob sie rund um die Uhr auf Sendung sind, schlagartig in der ganzen Welt verfügbar und in alle Ewigkeit präsent.

Die "Tarnkappe der anonymen Masse übers selbst ernannte Richterhaupt" ziehen

Es ist auch ein Unterschied, ob sich ein Mensch im Eifer der Selbstdarstellung bei Freunden und Nachbarn blamiert oder - nicht rückholbar - vor einem Millionenpublikum. Es ist auch ein Unterschied, ob ein Schüler seinen Lehrer oder Banknachbarn in der Klasse und im Pausenhof mobbt, oder ob er ihn einem Millionenpublikum zum Fraß vorwirft. Und wieso eigentlich sollen Urheberrechte plötzlich nicht mehr gelten, nur weil man sie massenhaft verletzen kann?

Was massenhaft geschieht, verändert sich nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Es ist erstaunlich, wie arglos und kenntnisarm die Manifestierer mit solchen Erfahrungen umgehen. Und auch das könnten sie wissen, wie leicht gewisse Zeitgenossen, die sich im kleinen Kreis ihrer Öffentlichkeit einigermaßen höflich und anständig benehmen, aber hemmungslos „die Sau rauslassen“ und die Persönlichkeitsrechte ihrer Zeitgenossen verletzten, sobald sie sich unbeobachtet fühlen. Dem einzelnen Opfer tut es weh wie schon immer, der Täter aber hält sich für den Vollstrecker des Weltwillens und zieht sich die Tarnkappe der anonymen Masse übers selbst ernannte Richterhaupt. Er riskiert ja auch nichts. Er tippt ein paarmal auf sein Keyboard, klickt auf seinen „Ok-Button“, und die Sache ist für ihn erledigt. Das Gewissen braucht eine höhere Eingangsspannung, um anzuspringen.

Internet: Information oder Desinformation

Gewiss wird das Internet die bestehenden Mediensysteme und die Gepflogenheiten ihrer Nutzer verändern. Manches wird unwiderruflich infrage geraten und verschwinden oder nur in der Nische überleben. Als Gutenberg seine ersten Lettern schnitzte, war das Ende der klösterlichen Schreibstube eingeläutet, aber heute wissen wir, dass man mit Tusche auf Pergament den gleichen Unsinn schreiben kann wie auf der Schreibmaschine oder im PC. Das Internet sei der Sieg der Information, jubeln die einen. Mit mindestens ebenso guten Gründen warnen die anderen, es sei der Sieg der Desinformation.

Worauf will ich hinaus? Das Internet ist ein Instrument, ein Werkzeug, nicht mehr und nicht weniger. Es ist nicht die Gesellschaft, sondern diese kann es zu ihrem Vor- oder Nachteil benutzen. Es erzeugt nicht den besseren Journalismus. Diesen erzeugen nur bessere Journalisten. Es hebt die technologischen Grenzen zwischen Amateur und Profi auf, aber nicht die Grenzen. Die schöne neue Welt des Internet ist keine neue Welt. Es ist die alte Welt mit neuen Mitteln. Wer darin agiert, ist auch nicht der neue Mensch, sondern der alte Zweibeiner, der Geschäfte machen oder sein Geschäft verrichten will.

Andersdenkende werden erst zu Sündern, dann zu Teufeln

Das ist ja der Kummer aller Manifestierer: Sie haben einen durchaus guten Gedanken (jeder Mensch sollte einen solchen des Öfteren haben), aber nun reißt es sie empor mit der Thermik ihres eigenen heißen Atems, und bald wird aus ihrer Teil-Erkenntnis eine verkappte Religion, in der sie sich als die Hohenpriester wähnen und in der sie die ganze Welt aus einem Punkte erklären. Jetzt hagelt es Glaubenssätze („Das Internet ist das Internet“), und dem Zweifler begegnet nur noch ein donnerndes „Auf die Knie!“

Und wenn man erst einmal den rechten Glauben hat, gilt jeder Andersdenkende (und erst recht der Denkende) als „Sünder“, wenig später als Teufel. Man malt ihn sich mit Hörnern und Pferdefuß, um die Kinder zu erschrecken. Das ist dann etwa der „besserwissende“ und menschenferne Journalist mit „Standesdünkel“ als Nutznießer traditioneller und fossiler Geschäftsmodelle, dem der „Bürgerjounalist“ endlich an den Kragen geht.

Risiken und Nebenwirkungen in den Griff bekommen

Systeme, die meinen, auf Regeln verzichten zu können, erliegen einer holden Täuschung. Sie erzeugen nämlich unter der Hand Regelkreise, die dann nach eigenen Gesetzen funktionieren und bald das große Ganze gefährden. Das hat uns die Finanzwirtschaft gerade schmerzhaft vorgeführt. Es geht also gar nicht um die Frage: Regelungen oder nicht, sondern um: Regelungen so oder so.

Warum um Himmels Willen oder in Teufels Namen sollte der Mensch als Erfinder des Internets nicht in der Lage sein, eine intelligente Gestaltung seines Produktes herbeizuführen? Warum wollen wir immer nur aus Katastrophen lernen? Warum bringen wir eine so erstaunliche und wunderbare Maschine aus Null und Eins zustande, um sie dann wie ein Neandertaler zu benutzen? Warum begnügen wir uns mit zerfallener Masse, wo wir mit Esprit und kreativer Phantasie vielleicht ein soziales Kunstwerk zustande brächten? Ambivalente Systeme lässt man nicht frei laufen, man sperrt sie auch nicht ein, aber man kann ihre Vorteile fördern und versuchen, die Risiken und Nebenwirkungen in den Griff zu bekommen.

Bei den Internet-Anarchos ist das Produkt der Souverän

Der Homo sapiens sollte es sich wert sein, intelligentere Entscheidungen zu treffen als „Augen zu und durch!“. Niemand sollte glauben, ein neues und so weitreichendes Verfahren der globalen Kommunikation sei ohne eine Debatte zu haben, eine Debatte über seine wahre Natur, seine erwartbaren Wirkungen und die nötigen Steuerungsimpulse, die den Tag seiner Erfindung zu einem guten Tag auf dem Weg zur freien Bürgergesellschaft machen.

Wenn man die Manifeste der Internet-Anarchos liest, ist das Produkt der Souverän, und der Mensch soll sich gefälligst heraushalten. Seit der Aufklärung sehen wir das eigentlich anders. Die Gesellschaft ist der Souverän und darf über Versuch und Irrtum bestimmen, wie sie leben will. Denkfaulheit ist zu wenig Versuch und zu viel Irrtum. Glaubenssätze oder kontaktscheue Mantras („Es wird schon alles gut“) helfen nicht weiter, weder hüben noch drüben.

Frage nach Bezahlinhalten ist ein Nebenschauplatz

Die Frage nach Bezahlinhalten ist vielleicht ein – wenn auch für die Qualität und Rolle der Presse in Zukunft entscheidender – Nebenschauplatz, aber manchmal erwachen dort die grauen Zellen und schicken die ersten Botenstoffe aus. Wenn sie nicht sofort durch Glaubenssätze abgebloggt werden, entstehen so die ersten Kriterien und Argumente für eine vernunftbegabte Auseinandersetzung.

Bertrand Russell schlug einmal vor, sämtliche Buchstaben des Alphabets, die Ziffern von 0 bis 9, die Satzzeichen und den Leerschritt in jeder möglichen Kombination niederzuschreiben. Das Programm hätte einige Millionen Jahre lang zu tun, aber wenn es dann eines Tages „Ready“ meldet, wäre die absolute Universalbibliothek entstanden. Sie enthielte alles jemals Geschriebene und alles jemals Schreibbare von der dümmsten Latrinenparole bis zum weisesten Gedanken. Die Erde hätte sich kilometerhoch mit Papier bedeckt.

Alle sollten über die Spielregeln diskutieren

Was Russell nicht ahnen konnte: Das Internet hat ahnungslos begonnen, an der Erfüllung seines Konzepts zu arbeiten. Aber – man ahnt es schon – der Triumph des Machbaren wäre der Sieg des Sinnlosen, denn nun müsste man aus der unendlichen Masse des Trash die wenigen brauchbaren Wörter und Sätze herausfiltern. Man bräuchte also doch wieder – nein, nicht den Zensor, aber Kriterien, Maßstäbe, Regeln, die das digitale Zeitalter so intelligent gestalten, dass sich Homo sapiens nicht schämen muss.

Jede Gesellschaft steht vor der Frage, welche Gesellschaft sie haben will. In der Demokratie geht alle Macht vom Volke aus. Warum also sollten wir nicht darüber diskutieren dürfen, nach welchen Regeln wir das Spiel spielen wollen. Wir wollen es nämlich nicht in jedem Fall verlieren. Niemand will Freiheiten abschaffen, aber meine Freiheit hat ihre Grenze in der Freiheit des anderen. Umgekehrt gilt das natürlich genauso. Wer das nicht mehr akzeptiert, riskiert genau die Freiheit, von der er profitieren will. Der Cyberspace ist eben nicht so virtuell wie er vorgibt zu sein, denn er kann schweren und sehr realen Schaden stiften.

Nun gut. Die Debatte ist endlich angestoßen. Sie darf sich nicht in ökonomische Interessen und Denkmuster verbeißen. Sie sollte auch nichts und niemanden dämonisieren. Sie muss aber umfassend geführt werden, reichhaltig und geduldig. Sie darf die offenkundigen Probleme nicht verbieten, sondern sollte sie möglichst lösen. Und wo soll sie stattfinden? Am liebsten überall. Warum nicht auch im Internet!

Hier geht's zum Internet-Manifest: 17 Thesen zur Zukunft des Journalismus´