Mülheim. Wer an Depressionen leidet, findet oft zu spät einen Therapieplatz. Eine Mülheimer Selbsthilfegruppe hilft Betroffenen: „Das Gemeinsame tut gut.“
„So kann ich nicht leben, ich habe keine Kraft mehr!“ Für dieses Eingeständnis hat Agnes, 49, lange gebraucht. Ständig war sie müde und erschöpft. Konzentrationsprobleme erschwerten ihren Arbeitsalltag als Sachbearbeiterin, kleine Dinge waren bereits zu viel. Es folgten Blutuntersuchungen und körperliche Ursachen wie Schilddrüsenunterfunktion wurden nach und nach ausgeschlossen. Was ihre Ärztin recht schnell vermutete, wollte Agnes lange Zeit nicht wahrhaben. Ein Jahr hat es gedauert, bis sie sich im April 2023 eingestanden hat, dass sie ein Burnout hat. „Ich will arbeiten, kann es aber nicht“, erklärt sie. Selbstzweifel waren da: „Was stimmt mit mir nicht, warum schaffe ich das alles nicht?“
Über das Internet hat die Mülheimerin eine Selbsthilfe-Gruppe für Menschen mit Depressionen, Burnout und Ängsten gefunden. „Ich brauchte Hilfe - und zwar sofort“, so Agnes. „Die Gruppe hat mein Leben gerettet!“ Seitdem ist der Besuch fester Bestandteil ihrer Woche. „Ich habe hier Kontakt zu Menschen, die das selber kennen, die einen verstehen. Ich fühle mich nicht mehr so alleine.“ Zusätzlich ist sie nun regelmäßig in einer Tagesklinik. Dort sucht sie nach dem Warum. „Einer der Gründe ist der Tod meines Mannes. Ich habe mir damals keine Zeit zum Trauern gegeben, sondern mich bewusst in die Arbeit gestürzt.“
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Depressionen sind eine der häufigsten Erkrankungen in Deutschland
Depressionen sind eine der häufigsten Erkrankungen in Deutschland und haben, auch durch Corona, stark zugenommen. Ausfälle im Beruf und Isolation im privaten Bereich sind die Folgen. „Das Selbstwertgefühl sinkt, man hat kein Vertrauen mehr zu sich selbst“, beschreibt der Gruppenleiter Sebastian Gerhards das Gefühl. „Die Seele schaltet ab.“ Auch er ist betroffen. Bei ihm begann es durch eine Veränderung in seinem Beruf. „Ich konnte gar nichts mehr“, so Gerhards. Zu diesem Zeitpunkt waren seine Zwillinge zwei Jahre alt, doch er erinnert sich kaum an die Zeit. „Ich war körperlich anwesend, sonst nichts.“
Zu den Depressionen kamen Schmerzen, ein Tinnitus und Ängste. „Man isoliert sich komplett, doch erst, wenn der Leidensdruck hoch genug ist, fängt man an, etwas zu verändern.“ Er kam 2013 in die Gruppe und fand dort Hilfe. Irgendwann hat er sie dann übernommen und die sieben Teilnehmer treffen sich nun regelmäßig einmal in der Woche. Eröffnet wird jeder Abend mit der Befindlichkeitsrunde: „Wie war die Woche?“ Danach werden Alltagsprobleme besprochen und Lösungsansätze gemeinsam erarbeitet. Doch am wichtigsten ist das Gefühl, dass man nicht alleine mit seinem Problem ist.
Mülheimerin mit Depressionen: „Man empfindet einen Wertverlust, weil man Dinge einfach nicht mehr schafft“
Jeder hat einen anderen Weg, mit seiner Erkrankung umzugehen. Während manche einen Klinikaufenthalt für sich ausschließen, kam er für Karin genau richtig. „Es war Balsam für meine Seele“, bestätigt sie. Bei ihr hat es vor ungefähr zehn Jahren mit Antriebslosigkeit und Erschöpfung begonnen. „Man empfindet einen Wertverlust, weil man Dinge einfach nicht mehr schafft“, versucht sie zu erklären. „Man fängt an, sich zu isolieren und beginnt mit permanentem Grübeln.“ Psychosomatische Erkrankungen kamen dazu, sodass Karin vor anderthalb Jahren ihre Arbeit aufgeben musste und sich seither in einer permanenten Krankschreibung befindet.
„Es war nicht einfach anzuerkennen, dass man an Depressionen leidet“, so Karin. „Es ist immer noch ein schwieriges Thema und so ganz anders, als man es sich vorstellt.“ In der Klinik hat sie an einer Gruppentherapie teilgenommen. „Es hilft zu sehen, dass auch andere betroffen sind“, erklärt Karin. Dort hat sie auch gelernt, Gefühle wieder zuzulassen. Deshalb besucht sie nun regelmäßig die Selbsthilfe-Gruppe. „Das Gemeinsame, das tut gut.“
Wie den Kindern vermitteln, was Depressionen mit Menschen machen?
Iris, 60, leidet bereits seit ihrer Jugend, bedingt durch ihr Elternhaus, an schweren Depressionen. Mit 25 hat sie Essen und Trinken verweigert, ist im Krankenhaus gelandet und konnte gerade noch gerettet werden. Das war ihr erster Zusammenbruch. „Ich wusste, mit mir stimmt etwas tief drinnen nicht, ich konnte es aber nicht greifen.“ Erst 2015 hat sie durch ihre Krebserkrankung und den Aufenthalt in einer onkologischen Klinik erfahren, dass sie an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidet. „Ich werde nie geheilt werden, aber ich kann versuchen, damit zu leben.“ Seit 15 Jahren ist sie bereits Frührentnerin.
Ihrem Kind hat sie mithilfe eines Buches versucht zu erklären, wie sich Depressionen anfühlen. „Wir haben immer offen darüber gesprochen. Trotzdem kann man es einfach nicht verstehen, wenn man es nicht selber hat.“ Deshalb kommt sie bereits seit über zehn Jahren in die Gruppe. „Hier muss ich mich nicht erklären.“ Bei ihr zeigen sich die Depressionen in Form von Schlafstörungen, Gereiztheit und Überempfindlichkeit. Wenn sie merkt, dass sie sich heute auf so eine Phase zubewegt, versucht sie, sich abzulenken. „Ich gehe mit offenen Augen spazieren, ich achte auf Details, auf die Schönheit einer Blume. Die Konzentration tut mir gut.“
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Zu wenige Therapieplätze: Mülheimer will eine zweite Selbsthilfegruppe etablieren
Obwohl die Erkrankungen wie Stress, Burnout, Ängste und Depressionen deutlich gestiegen sind, hat sich die Anzahl der Therapieplätze in Deutschland in den vergangenen Jahren nicht erhöht. Dabei gibt es genügend Psychotherapeuten, jedoch können sie nicht mit den Krankenkassen abrechnen. Es gibt zu wenig Kassensitze. Auch wenn die NRW-Landesregierung im Januar 2024 zusammen mit den Krankenkassen 24,5 zusätzliche Sitze geschaffen hat, ist noch immer keine ausreichende Versorgung gewährleistet.
„Da es viel zu wenig Plätze bei Therapeuten gibt und keiner auf einer halbjährigen Warteliste enden möchte, möchte ich versuchen, noch mehr Menschen zu helfen und eine zweite Gruppe bilden“, erklärt Gerhards. Er achtet darauf, dass es bei einem kleinen Kreis mit maximal zwölf Teilnehmern bleibt. „Es soll persönlich bleiben. Jeder soll zu Wort kommen.“
Bei Suizid-Gedanken: Notfall-Hotline bietet sofort Ansprechpartner
Wichtig ist Gerhards auch folgende Notfall-Telefon-Nummer: 0800 111 0 111. Dort bekommt man 24 Stunden sofortige Hilfe. „Wer suizidale Gedanken hat, soll sich dort melden.“ Solche Gedanken hatte wahrscheinlich fast jeder, der an Depressionen leidet, schon einmal. „Man will nicht wirklich sterben, es ist eher ein Hilferuf.“ Meist gelingt es den Leuten, etwas zu finden, weshalb es sich lohnt weiterzumachen. „Aber wenn man sich keine Hilfe holt, fällt man in ein Loch“, warnt Gerhards.
Interessierte sind herzlich eingeladen, sich beim Selbsthilfe-Büro Mülheim zu melden: 0208/300 48 14, selbsthilfe-muelheim@paritaet-nrw.org.
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