Mülheim. Um Jugendliche, die zu Hause rausfliegen, draußen abhängen, an Ämtern scheitern, kümmern sich Streetworker in Mülheim. Einblicke in ihre Arbeit.

Vor ein paar Wochen gab es in der Mülheimer Innenstadt mal wieder Streit zwischen Jugendlichen. Besonderheit dieses Mal: Das Ganze eskalierte bis hin zu einer Massenprügelei, bei der auch die Elterngeneration mitmischte. Körperliche Gewalt ist oft ein Thema, bei dem Streetwork/Mobile Jugendarbeit (SW/MJA) in Mülheim ansetzt. Aber anders, als viele es sich vorstellen.

Von Erwachsenen werden Jugendcliquen, die in Parks, auf Spielplätzen oder in Fußgängerzonen abhängen, die vielleicht laut sind, kiffen oder trinken, mitunter oft als bedrohlich erlebt. „Dann wird oft nach Streetworkern als ,Sozialfeuerwehr’ gerufen“, sagt Streetworker Thomas Böhm (45), der seit fast fünf Jahren in Mülheim arbeitet. Oft werde der Wunsch laut, Jugendliche von bestimmten Orten zu entfernen. Doch er und seine Kollegin Ina Reyer (25) verstehen ihre Arbeit anders. Wenn sie fachlich eingreifen, dann „nicht hinsichtlich der Frage, welche Probleme Jugendliche im öffentlichen Raum machen, sondern welche Probleme sie haben“.

Angsträume von Jugendlichen in Mülheim-City, Eppinghofen oder Styrum

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Es gibt Stellen in Mülheim, die finden Jugendliche, mit denen die Streetworker sprechen, gefährlich. Von „Angsträumen“ ist die Rede, genannt werden: Haltestelle Stadtmitte, Mülheimer Hauptbahnhof, Eppinghofer Kreisel, einzelne Abschnitte der Eppinghofer und der Oberhausener Straße. Dort fürchten Jugendliche Gewalt durch andere Jugendliche oder Erwachsene.

Thomas Böhm beschreibt einen konkreten Fall, ganz aktuell: „Ein junger Mann hat Angst, dass er in der Stadtmitte verhauen wird.“ Er mache jetzt Fitness- und Krafttraining, im Rahmen des Programms „Got the Power“, das die Streetworker in Zusammenarbeit mit dem CVJM-Jugendzentrum und dem Sportpark Styrum anbieten. „Der junge Mann soll erleben, dass er stark und mutig ist.“ Nicht, um in Prügeleien härter zuschlagen zu können, „sondern um festzustellen: ,Ich brauche mich nicht mehr auf Provokationen einzulassen.’“ Der Sozialarbeiter glaubt, so kann es funktionieren. „Wie viele Jugendliche wir aber tatsächlich gut auf den Weg bringen, das können wir nicht messen.“

Zwei Streetworker für Jugendliche in Mülheim

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In einem umfangreichen Bericht für die Politik haben die beiden Fachleute ihre Arbeit der Jahre 2020 bis 2022 zusammengefasst - eine Phase, die massiv von der Corona-Pandemie geprägt war, mit besonderen Belastungen gerade auch für Kinder und Jugendliche. Seit knapp zwei Jahren sind Böhm und Reyer im gemischten Doppel in Vollzeit tätig - unbefristet, wie Gabriele Bartelmai, zuständige Abteilungsleiterin im Mülheimer Jugendamt, betont. „Wir sind froh und dankbar, dass wir diese Anlaufstelle haben und die Jugendlichen nicht ins Rathaus gehen müssen.“

Basis der Streetworker und Beratungsstelle für Jugendliche ist ein Ladenlokal an der Löhstraße 3-5. Es ist nicht beschildert, die Scheiben tragen lediglich ein Logo - mit Absicht, zum Schutz der Besucherinnen und Besucher, die hier ab einem Alter von 14 Jahren willkommen sind. Die Räume sollen „für unerwünschte Personen möglichst schwierig aufzufinden sein“, heißt es, insbesondere für Leute, die den Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Gewalt drohen. Auch Elternteile haben in dieser Anlaufstelle eigentlich nichts zu suchen. Wenn sie sich in guter Absicht, aus Sorge, an das Team wenden, bekommen sie zu hören: „Die Kinder müssen sich selber melden. Wir arbeiten nur mit Jugendlichen, und sie entscheiden auch, wer was erfährt.“

Clique wird „regelmäßig angefeindet, weil sie nicht biodeutsch aussehen“

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Die Streetworker sind zuständig für Mülheims Stadtmitte und Styrum. Dort leben (Stand: Herbst 2022) etwa 6500 Personen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren, Hauptzielgruppe ihrer Arbeit. Mindestens 200 Einzelpersonen habe man schon erreicht, berichtet Thomas Böhm, mehr als 30 Leute kenne man namentlich und habe sie mehrfach getroffen. Intensive Kontakte bestehen aktuell zu vier Jugendcliquen. Eine, die in Styrum unterwegs ist, sei „richtig schön laut“, sagt Böhm. Alle besuchten die Schule oder machten eine Ausbildung, „und alle werden regelmäßig angefeindet, weil sie nicht biodeutsch aussehen“, so der Sozialarbeiter. „Immer kommt irgendjemand vorbei und beschimpft sie.“

Die Haltestelle Stadtmitte in Mülheim, hier während einer Schwerpunktkontrolle der Polizei (Archivbild): Nicht nur manche Erwachsene, sondern auch Jugendliche haben hier ein ungutes Gefühl.
Die Haltestelle Stadtmitte in Mülheim, hier während einer Schwerpunktkontrolle der Polizei (Archivbild): Nicht nur manche Erwachsene, sondern auch Jugendliche haben hier ein ungutes Gefühl. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Bei den Mädchencliquen gehe es eher darum, sich in einem männlich dominierten Lebensumfeld zu behaupten. Das Streetwork-Team wurde vor knapp zwei Jahren um eine Frau erweitert, um spezielle freizeitpädagogische Angebote für Mädchen und junge Frauen zu machen und um Themen anzugehen wie Prostitution, Verhütung oder (sexualisierte) Gewalt, heißt es im jüngsten Tätigkeitsbericht.

Für beide Geschlechter gilt: Die jungen Leute, die von Thomas Böhm und Ina Reyer unterstützt werden, bewegen sich oft in Zwischenräumen. Die Streetworker beschreiben es so: „Sie können nicht mehr zu Hause leben, aber irgendwie auch nicht woanders. Hilfesysteme sind zuständig, aber irgendwie auch nicht.“ Praktischer Beistand gehört zur alltäglichen Arbeit: Man hängt gemeinsam in Warteschleifen, hockt mit in Wartezimmern, begleitet zu Behörden.

Verdeckte Obdachlosigkeit, bis an die Grenze zur Prostitution

Jugendliche, die in Mülheim wortwörtlich auf der Straße leben und schlafen sind den Streetworkern aktuell nicht bekannt. „Oft gibt es aber verdeckte Obdachlosigkeit“, berichtet Ina Reyer. Junge Leute, die zu Hause rausgeflogen sind, schlafen bei Freunden oder auch bei Fremden. Manche lassen sich auf sogenannte Taschengeldtreffen ein, die über einschlägige Apps vereinbart werden, das betrifft besonders Mädchen und junge Frauen. „Teilweise werden gezielt Schülerinnen und Studentinnen angesprochen. Vielen ist gar nicht bewusst, dass das Prostitution ist.“

Die Sozialarbeiterin berichtet von einer jungen Frau, deren Leben unsicher und unruhig war, „lange in der Schwebe“. Sie habe nach heftigem Streit mit ihrem Vater ihr Zuhause verloren, sei „durch ganz Deutschland getourt“, habe bei wechselnden Partner gewohnt, zeitweise auch auf der Straße gelebt, sei dann nach Mülheim zurückgekehrt und durch die mobile Jugendarbeit betreut worden. „Der Moment, in dem sie ihren ersten eigenen Wohnungsschlüssel ausgehändigt bekam, war sehr emotional“, sagt Ina Reyer. „Das werde ich nie vergessen. In solchen Augenblicken weiß man, wofür man es macht.“

In der Anlaufstelle der Streetworker, Löhstraße 3-5, gibt es dienstags von 11 bis 16 Uhr eine offene Sprechstunde. Das Team ist erreichbar unter 0208 / 455-4596 sowie per Handy/WhatsApp unter 0178/661 2399 (Tom) oder 0151 / 57011299 (Ina).

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