Kreis Kleve. Bürgergeld statt Hartz IV: Wie das Jobcenter die Reform bewertet und warum bei Arbeitsverweigerern ein Blick hinter die Fassade nötig ist.
Die Einführung des Bürgergeldes zum 1. Januar 2023 war eine der größten Sozialreformen in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren. Bereits ein Jahr danach sind jedoch Änderungen an dem „Hartz IV“-Nachfolger in der Diskussion: Bürgergeldempfänger sollen härter sanktioniert werden, wenn sie Arbeitsangebote komplett verweigern. Die NRZ hat beim Kreis Kleve als Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende nachgefragt, was die Umsetzung der Reform gebracht hat und – wie das Jobcenter die umstrittenen Kürzungspläne von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) beurteilt.
„Den Jobcentern wurde mit der Einführung des Bürgergeldes viel abverlangt“, stellt der Kreis Kleve fest, der eng mit den Jobcentern in den 16 Städten und Gemeinden zusammenarbeitet. Das Fazit aus dem Kreishaus fällt zwölf Monate später indes ernüchternd aus: „Der große ,Aha-Effekt‘ ist bis jetzt ausgeblieben.“
Entbürokratisierung kaum spürbar
Dafür gibt es mehrere Gründe. So habe die mit der Reform angekündigte Entbürokratisierung leider in den Jobcentern vor Ort kaum merkliche Entlastungseffekte entfaltet, konstatiert der Kreis Kleve, „auch wenn Jobcenter seitdem Erstattungsbeträge unter 50 Euro nicht mehr zurückfordern müssen, da der Verwaltungsaufwand häufig wesentlich teurer ist als der eigentlich zu erstattende Betrag“. Auch die Anpassung höherer Vermögensfreibeträge je Bedarfsgemeinschaft spiele in der täglichen Arbeit der Jobcenter-Mitarbeitenden überwiegend keine Rolle. „Antragstellende haben auch bisher regelmäßig über kein Vermögen über den früheren Freigrenzen verfügt.“
Mit der Ablösung des Arbeitslosengeldes II („Hartz IV“) durch das Bürgergeld wurde der Vermittlungsvorrang per Gesetz abgeschafft. Zwar ist die Vermittlung in Arbeit natürlich weiterhin wichtig, doch die Reform rückte in den Vordergrund, den Leistungsbeziehenden vorab Qualifikationen zu ermöglichen oder ihre sozialen Probleme zu lösen.
Die aktuellen Regelsätze
Zum 1. Januar 2024 sind die Regelsätze im Bürgergeld deutlich um gut zwölf Prozent gestiegen. Alleinstehende/Alleinerziehende erhalten nun 563 Euro (vorher: 502 Euro), Paare je Partner/Bedarfsgemeinschaften 506 Euro (451 Euro), Volljährige in Einrichtungen 451 Euro (402 Euro), Jugendliche von 14 bis 17 Jahre 471 Euro (420 Euro), Kinder von sechs bis 13 Jahre 390 Euro (348 Euro) und Kinder von null bis fünf Jahre 357 Euro (318 Euro)
„Im Zuge der Reform wurden die Berechnungen der Regelbedarfe auf eine neue Grundlage gestellt. Hintergrund waren die extrem steigenden Lebenshaltungskosten und Energiepreise“, erläutert das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. „Anspruch auf Bürgergeld (Grundsicherung für Arbeitssuchende) haben Menschen, die trotz umfassender Bemühungen keine Arbeit finden oder mit ihrer Arbeit so wenig verdienen, dass ihr Lebensunterhalt nicht gesichert ist.“
Kreis Kleve: Ganzheitliche Betreuung gab es schon vor der Reform
Für die Arbeitspraxis in den Jobcentern im Kreis Kleve sei dies allerdings keine wirkliche Neuerung gewesen. „Bereits vor der Einführung des Bürgergeldes lag der Fokus des zuständigen Fallmanagers auf Ausbildung oder (Teil-)Qualifizierung, wann immer dies möglich und erforderlich war“, so die Kreisverwaltung. „Ebenso verhält es sich mit sozialen Herausforderungen – bevor diese nicht in den Griff zu kriegen sind, ergibt eine Integration in Arbeit keinen Sinn; so würde man lediglich potenzielle Drehtüreffekte erzielen, womit niemandem geholfen wäre.“
Viele mit dem Bürgergeld gesetzlich festgeschriebene Unterstützungsmöglichkeiten wie zum Beispiel die ganzheitliche, aufsuchende Beratung und Betreuung seien bereits seit Jahren im Kreis Kleve gängig geübte Arbeitspraxis. „Ebenfalls zum Tagesgeschäft gehören seit jeher Angebote der psychosozialen Beratung des Bürgergeldberechtigten. Nicht erst seit Corona ist deutlich, dass viele Menschen neben der Herausforderung der Arbeitsplatzsuche vielfältige, zum Beispiel gesundheitliche oder familiäre Herausforderungen, mitbringen“, ordnet der Kreis Kleve ein.
Diskussion über härtere Sanktionen für Totalverweigerer
Dementsprechend verändere das Bürgergeld die Arbeit mit den Berechtigten der Sozialleistung nicht. „Das Jobcenter Kreis Kleve hat es in vielen Fällen mit denselben Menschen zu tun. Zuverlässigkeit und Mitwirkungswille sind unabhängig von Gesetzen entweder mehr oder weniger vorhanden. Viel wichtiger ist die gute Beziehung zwischen Fallmanagement und Bürgergeldberechtigten“, stellt der Kreis fest.
Die Mitwirkung der Menschen ohne Arbeit wird aktuell im politischen Raum teils hitzig diskutiert. Der Vorschlag des Bundesarbeitsministers sieht die Streichung des Bürgergeldes für bis zu zwei Monate vor, wenn Bürgergeldempfänger Arbeitsangebote komplett verweigern. Während Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, dies als „Symbolpolitik“ kritisiert und in den Totalverweigerern eine sehr kleine Gruppe sieht, fordert die CSU noch härtere Strafen bis hin zur kompletten unbefristeten Streichung des Bürgergeldes.
Weniger Leistungsminderungen im Kreis Kleve als im NRW-Durchschnitt
„Ja, es gibt Menschen, die nicht interessiert sind, ihren Mitwirkungspflichten zur Arbeitsaufnahme nachzukommen“, meint der Kreis Kleve. Aber: „Manchmal ist jedoch auch ein Blick hinter die Fassade durch das Fallmanagement oder das aufsuchende Coaching aufschlussreich. Nicht immer ist fehlende Mitwirkung auf Totalverweigerung zurückzuführen. Manchmal ist es auch einfach die Angst, wieder zu versagen. Erfolgsverwöhnt sind nämlich nur sehr wenige Menschen, die im ,System Bürgergeld‘ landen.“
Laut amtlicher Statistik der Bundesagentur für Arbeit lag der Anteil der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten mit mindestens einer Minderung des Bürgergeldes im Berichtsmonat August 2023 bei 0,3 Prozent und damit unterhalb des Durchschnitts in Nordrhein-Westfalen mit 0,5 Prozent. Die Leistungsminderungen bewirkten eine durchschnittliche Kürzung des laufenden Leistungsanspruchs um 6,8 Prozent bzw. 49 Euro. Zum Vergleich: Im NRW-Durchschnitt wurden Leistungen um 7,6 Prozent bzw. 55 Euro gekürzt.
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Kreis Kleve: Weitere Kürzungen gehen zulasten der Unterstützung
Sparen möchte oder muss – mit Blick auf das Haushaltsloch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts – die Bundesregierung auch mit dem Streichen des Bürgergeldbonus für Weiterbildungsmaßnahmen. Glücklich sind die Verantwortlichen mit diesen Kürzungsplänen nicht, wie der Kreis Kleve deutlich durchblicken lässt: „Jobcenter mussten bereits in den vergangenen Jahren den Gürtel immer enger schnallen, zeitgleich werden Maßnahmen zur Aktivierung der Menschen individueller und damit teurer. Weitere Kürzungen gehen daher direkt zulasten der Angebote für die unterstützungsbedürftigen Menschen.“
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